Tag X. V. S. Gerling
8
»Wir müssen also einen Haufen von Narzissten retten.«
Patrick Ebel
Hagedorn spürte, dass er an seine Grenzen stieß. Eine vollkommen neue Erfahrung für ihn.
Unter normalen Umständen verfügte er immer über ausreichend Informationen, um einen Plan zu entwerfen. Es war sogar so, dass ihm plötzlich bewusst geworden war, wie simpel seine Arbeit in der Vergangenheit gewesen war.
Das Objekt der Begierde war gleich A. Und es befand sich im Gebäude B. Der Zeitfaktor war Größe C. Menschliche Ressourcen waren Faktor D.
Daraus ließ sich was machen. Immer.
Aber im aktuellen Fall war alles anders.
A gab es nicht. B auch nicht. C war insofern unbekannt, als dass sie nur vermuten konnten, in welcher Phase sich der laufende Prozess befand.
Und D, der Faktor Mensch?
Hier kam es darauf an, welche Informationen Eichborn und seine Leute in der Zwischenzeit gewonnen hatten.
Er entschloss sich, davon auszugehen, dass die Verschwörung sich inmitten von Phase vier befand.
Es galt also, etwas aufzuhalten, das sich in voller Fahrt sozusagen auf der Zielgeraden befand.
Und das, ohne zu wissen, wer am Steuer saß und wohin die Fahrt gehen sollte.
Vor allem die mit hoher Wahrscheinlichkeit geplanten Anschläge machten ihm Sorgen.
Es gab so viele unterschiedliche Ziele und Vorgehensweisen.
Hagedorn versuchte, sich auf das zu beschränken, was sie wussten.
Beziehungsweise mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen konnten.
Jemand hatte im großen Stile Waffen und Munition gestohlen.
Das tat man nicht, wenn man nicht auch vorhatte, dies einzusetzen.
Auch wurden große Mengen Notfallrationen entwendet. Es lag nahe, dass auch andere Nahrungsmittel in Konserven gehortet worden sind.
Das wiederum ließ darauf schließen, dass diejenigen, die auch die Waffen gestohlen hatten, davon ausgingen, dass eine Verknappung von Lebensmitteln eintreten würde.
Hagedorn kam ein Gedanke; sie würden auch Treibstoff benötigen. Benzin und Diesel für Fahrzeuge und Diesel für Stromgeneratoren. Eichborn müsste überprüfen lassen, ob auch Treibstoff in größerem Umfang gestohlen worden war.
Er war sich sicher, dass dem so war.
Auch war er sicher, dass sie eine Stimme benutzen würden, der die Bevölkerung vertrauen würde.
Dann war da noch die Tatsache, dass die Verschwörer bestimmte Leute ausschalten müssten.
Es gab keine Möglichkeit, den Prozess aufzuhalten.
Aber er könnte behindert werden. Man könnte die Dynamik herausnehmen und die Verschwörer dazu bringen zu improvisieren. Und dann, so Hagedorns Vermutung, würden sie Fehler machen.
Und da sie nicht wussten, wer genau die Waffen gestohlen hatte und wo sie sich befanden – dasselbe galt für den Treibstoff –, musste Hagedorn sich auf die menschliche Komponente konzentrieren.
Wen würde er auf eine Todesliste setzen, würde er eine solche Verschwörung planen?
Auf jeden Fall den amtierenden Bundeskanzler.
Dann seinen Stellvertreter, also den Außenminister.
Ganz bestimmt den Bundespräsidenten, denn der war sehr beliebt.
Hagedorn führte die Überlegungen fort und schon bald umfasste seine Todesliste mehr als vierzig Namen. Darunter befanden sich Politiker, Wirtschaftsbosse, Journalisten und den einen oder anderen Prominenten, der politisch Gewicht besaß.
Wenn man diese Personen in Sicherheit bringen würde, käme der Plan der Verschwörer ins Stocken. Theoretisch jedenfalls …
Selbstverständlich war es Hagedorn vollkommen klar, dass es schwierig werden würde, all diese Personen in Schutzhaft oder was auch immer zu bringen. Zumal sie sich ausschließlich auf Indizien berufen konnten.
Eindeutige Beweise für die Verschwörung gab es nicht.
Noch nicht.
Ohne sich Gedanken über die Zeitverschiebung zu machen, griff er zum Telefon und rief Patrick Ebel an.
»Ja.«
»Ich bin’s, Hagedorn. Störe ich?«
»Wenn Sie um diese Uhrzeit stören würden, wäre ich nicht ans Telefon gegangen.«
»Äh, gut. Also, ich habe eine Idee, weiß aber nicht, ob sie umsetzbar sein wird.«
»Schießen Sie los. Verrückter als die Sachen, die wir vorhaben, kann es nicht werden.«
»Sie müssen eine ganze Reihe von Leuten in Sicherheit bringen, da die mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auf einer Todesliste stehen.«
»Und das wird schwierig, weil …?«, fragte Ebel nach.
»Weil sie nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie in der Öffentlichkeit stehen.«
»Ah, verstehe. Wir müssen also einen Haufen von Narzissten retten.«
»So kann man es auch ausdrücken«, bestätigte Hagedorn.
»Wie können wir sicherstellen, dass sich unter den Personen, die wir schützen sollen, keiner befindet, der zu den Verschwörern gehört?«
Hagedorn nickte, obwohl Patrick das nicht sehen konnte. »Können wir nicht.«
»Okay. Schicken Sie mir die Liste, ich melde mich dann wieder.«
»Sind Sie mit ihren Ermittlungen weitergekommen?«
»Ja. Ich denke, wir haben die Person gefunden, die von den Verschwörern als Stimme benutzt werden soll.«
»Das ist gut, oder?«, wollte Hagedorn wissen.
»Das kann ich noch nicht sagen …«
»Warum? Was ist los?«
Hagedorn lauschte der Erklärung Ebels und als der geendet hatte, musste er anerkennen, dass die Verschwörer wirklich wussten, was sie taten.
Aber irgendetwas störte ihn an der Wahl …
Ebel ging es wohl genauso, anders konnte sich Hagedorn dessen zurückhaltende Euphorie nicht erklären.
»Was stört Sie an der Wahl?«, fragte Hagedorn nach.
»Dass es eine Frau sein könnte, hatten wir von vornherein gesagt. Aber was uns stutzig macht, ist die Tatsache, dass Sybille Thaler keine gebürtige Deutsche ist.«
»Ja, das kann ich nachvollziehen. Auch mich störte etwas an ihr. Kann sein, dass es genau das war. Aber lassen Sie uns kurz über die Frau sprechen. Sie ist in der Schweiz geboren, richtig?«
»Ja, genau.«
»Sie war Model und hat dann später diesen Sportler geheiratet«, las Hagedorn, der die Wikipedia-Seite der Frau geöffnet hatte. »Dann der in aller Öffentlichkeit ausgetragene Rosenkrieg, danach die Scheidung – zu dem Zeitpunkt lebte sie schon in Deutschland. Der Typ hat versucht, sie fertigzumachen, sie aber blieb ruhig und hat zu keinem Zeitpunkt schmutzige Wäsche gewaschen. Das hat ihr in der breiten Öffentlichkeit ungemeine Sympathien gebracht. Und ihre Karriere angekurbelt.«
»Richtig.«
»Ah, hier steht es. Thaler setzt sich schon sehr lange für Soldaten ein, die im Ausland gedient haben und traumatisiert zurückgekehrt sind. Allerdings hielten sich ihre politischen Aktivitäten in einem sehr überschaubaren Rahmen. Aber dann hat sie plötzlich angefangen, sich politisch zu engagieren. Hat sogar Demonstrationen organisiert, in denen die schlechte Ausrüstung