KAMASUTRA IN UNTERFILZBACH. Eva Adam
die härtesten Stammtischbrüder rot. Sie konnte fast alle Männer unter den Tisch trinken, was sie auch alljährlich beim Filzer Goldfest unter Beweis stellte. Sandra war mit ihren 28 Jahren eine gestandene alleinstehende, unabhängige Frau mit gewissem Drang zu Höherem. Fleißig, patent und anpackend und dadurch überall gern gesehen. Die Männer mochten sie für ihre zünftige Art und die Frauen sahen von ihr keine Gefahr bezüglich der Unterfilzbacher Männerwelt ausgehen. Sie war mit Leib und Seele Metzgereifachverkäuferin und ein Aushängeschild im Betrieb der Aschenbrenners. Sollte es jemals eine »Leberkäskönigin« zur Wahl geben, wäre Sandra sicherlich eine geeignete Kandidatin gewesen. Aber nun lag sie da auf dem Boden des Gefrierraums und war sichtlich nicht mehr zu schweinischen Witzen aufgelegt.
Maria erzählte in ihrem blitzschnellen Redeschwall auch, dass Sandra gestern Abend Reiner noch eine SMS geschrieben hatte, dass sie einen ganz wichtigen Termin erledigen müsse und heute nicht arbeiten könne. Darüber hatte sich jedoch keiner besonders gewundert. Vielleicht ärgerte sich die Maria ein wenig, weil ja Donnerstag Lüngerltag war, aber ab und zu nahm sich die Sandra auch mal frei. Das kam zwar nicht oft vor, aber zwei- bis dreimal im Jahr schon. Heute Morgen dann, als Reiner den Gefrierraum öffnete, machte er die grausige Entdeckung.
Der Herr Kommissar meldete sich nun zu Wort:
»Also, so wie ich das sehe, ist das hier ganz klar ein Unfall. Die Frau Wolf hatte sich wohl im Gefrierraum aufgehalten, die Tür ist zugefallen und der Notöffnungsknopf hier ist wohl locker gewesen und ließ sich nicht mehr öffnen. Tragisch, aber so ist halt das Leben. Wir werden das als Unfall zu Protokoll nehmen und dann kann man den Tatort … ähm, pardon, die Unfallstelle wieder freigeben.«
Wie bitte? Ein Unfall? Also den Baumgartner haben sie als Kind wohl zu heiß gebadet, oder wie? Das ist ja der größte Volltrottel-Polizist, den es in ganz Bayern gibt. Also beim Leben meiner drei Kinder darf ich auf der Stelle mausetot umfallen, wenn das hier ein Unfall gewesen sein soll, ärgerte sich Hansi innerlich. Er platzte fast vor Aufregung.
»Ähm, also Josef«, räusperte er sich vorsichtig, »du bist aber schon noch ganz sauber, oder?«
Der Kommissar schaute den Bauhofmitarbeiter in seiner Latzhose mit großen Augen an. »Wie bitte, Herr Scharnagl?«, entgegnete er noch in einem ruhigen Tonfall.
»Also beim Hornung Martin war es ja schon komisch, dass du da sofort ohne so Spurenleute oder die, die im Fernsehen immer in den weißen Anzügen an einen Tatort kommen, gleich gesagt hast, es wäre ein Unfall, aber hier ist es doch wohl total klar, dass was nicht stimmt.«
Man konnte sehr gut beobachten, wie eine Ader auf der Polizistenstirn langsam gefährlich anschwoll. Es war Hansi tatsächlich gelungen, den Herrn Baumgartner aus der Fassung zu bringen.
Mit einem festen, sehr tiefen lauten Tonfall, wie dem eines Opernsängers, sang – oder vielmehr schrie – Baumgartner den immer kleiner werdenden Hansi an: »Also, erstens bin ich im Dienst und für Sie dann immer noch HERR Baumgartner, HERR Scharnagl! Und zweitens, was haben SIE überhaupt hier zu suchen? Was bilden SIE sich ein, hier einfach dreinzureden und mir zu sagen, wie ich meine Arbeit machen soll? Das war beim letzten Mal, als der Apotheker Hornung von IHNEN gefunden wurde, schon sehr gewagt, meine These anzuzweifeln. Kümmern SIE sich lieber um IHRE Weihnachtsbeleuchtung im Frühling und überlassen SIE mir meine Arbeit. Da hört sich ja alles auf, Herrschaftszeiten kruzifix da herin.«
Der Kommissar atmete tief durch und sagte dann wieder in einer normalen, aber immer noch tiefen Tonlage zu den Aschenbrenners: »Kommen Sie morgen auf die Dienststelle und unterschreiben Sie das Protokoll und dann ist die Sache erledigt. Wiederschauen die Herrschaften.« Dann rauschte er davon.
Kurz herrschte Stille im Raum, man konnte nur entfernt das Getümmel aus dem Verkaufsraum hören.
Maria Aschenbrenner war die Erste, die die Stille unterbrach. »Also ich glaube auch, dass das ein Unfall war, wer soll denn der Sandra was Böses wollen? Und dann noch hier bei uns in der Metzgerei? Also ich glaube auch, wie der Josef, dass das hier einfach tragisch war. Es ist halt blöd, weil wir jetzt wieder eine neue Verkäuferin brauchen, und die sind eh so schwer zu finden. Aber es hilft ja nix.«
Der Metzgermeister hatte inzwischen wieder Farbe im Gesicht und schaute seine Frau an, dann erhob er sich von seiner Lieferkiste und sagte mit zitternder Stimme: »Was bist du nur für ein eiskaltes Weib? Die Sandra ist ein ganz liebes Mädel gewesen, die ist hier bei uns heute in unserem Gefrierraum gestorben. Verstehst du mich? Ge-stor-ben! Und du? Du überlegst, wie du gleich eine neue Verkäuferin bekommst?«
Hansi lauschte den ehelichen Auseinandersetzungen der Aschenbrenners und dachte sich kurz, dass eiskaltes Weib im Moment auch auf die Sandra zutraf, verwarf diesen Gedankengang aber gleich wieder. Doch auch Hansi war sehr überrascht, wie Maria da jetzt sofort ans Geschäft denken konnte und so gar kein Gefühl zeigte. Beleidigt drehte sich Maria um und stapfte in Richtung Verkaufsraum der Metzgerei.
Reiner stand da und sah wirklich verzweifelt aus, fand Hansi. Es war ihm sogar, als ob er ein wenig feuchte Augen hatte. Aber seit er vor Kurzen gesagt bekommen hatte, dass er eigentlich eine Gleitsichtbrille bräuchte, war er sich da nicht immer sicher, was er so den ganzen Tag sah.
So recht wusste Hansi jetzt auch nicht, was er sagen sollte. Sollte er mit Reiner diskutieren, ob er diese Baumgartner-Unfalltheorie auch anzweifelte? Aber es schien so, als bräuchte der Metzgermeister, der anscheinend doch recht sensibel war, ein wenig Trost. Wobei das bei einem Metzger doch dann auch was Besonderes ist, denn so einem kleinen niedlichen Ferkelchen mit seinen großen Augen und seinem herzzerreißenden Gefiepe kann er ja ohne zu zögern den Schussapparat an das kleine rosarote Köpfchen halten und abdrücken. Hansi schaute sich kurz um, ob ihn jemand sah, dann nahm er Reiner in den Arm, der daraufhin wirklich schluchzend zu weinen begann. Bettina sagte immer: »Umarmungen können Dämme der Gefühle brechen.« Warum hatte Hansi daran nicht gedacht? Mei, hoffentlich sah ihn hier jetzt keiner, wie er so den Metzgermeister im Arm hutschte. Aber der Tod seiner Verkäuferin schien Reiner Aschenbrenner sehr getroffen zu haben.
Irgendwann überließ dann Hansi den Metzger wieder seiner Trauer und fuhr mit Sepp den Feuerwehrleiterwagen ins Feuerwehrhaus und die abmontierte Weihnachtsbeleuchtung zur Sommerruhe in das Bauhoflager zurück.
Als er Sepp die Vorkommnisse in der Metzgerei und seine Abwesenheit erklärte, schlackerte auch dieser förmlich mit den Ohren und bezweifelte augenblicklich, dass so ein Notöffnungsknopf einer Gefrierhausinnentür einfach abbrechen könne. Und der Sepp musste so was schon wissen, der war nämlich ein Tüftler. Man sah es ihm nicht an, aber der Sepp hatte sage und schreibe fünf Semester Chemie und dann noch vier Semester Maschinenbau studiert. So wirklich wusste eigentlich keiner, was damals genau passiert war und wieso er seine Akademikerkarriere an den Nagel gehängt hatte, bevor sie überhaupt begann. Darüber redete er auch nicht. Er war damals ein paar Jahre weg aus Unterfilzbach gewesen und hatte sich vor einigen Jahren einfach beim Bauhof auf eine ausgeschriebene Stelle beworben. Und dann war er wieder da, der Sepp. Seitdem waren der Hansi und er richtig gute Spezln. Jedenfalls war der Sepp fast so was wie der Daniel Düsentrieb aus Unterfilzbach. Er sammelte alles, was nicht niet- und nagelfest war oder irgendwer weggeschmissen hatte. Da brauchte man aber jetzt nicht glauben, dass beim Sepp daheim keine Ordnung herrschte, im Gegenteil sogar. Da war es nicht so wie bei einem Messie, nein, ganz und gar nicht.
Er hatte damals das uralte kleine Häuschen seiner Eltern geerbt, was eher als Bruchbude zu bezeichnen war und schon ein paar Jahre nach deren Tod leer gestanden hatte. Jeder andere Bauherr hätte diese Ruine sicher »über den Haufen geschoben« und abgerissen und dann da ein Fertighaus im Toskana-Stil hingezaubert, wie es ja jetzt so Mode war. Aber der Sepp hat sehr viel Geduld und war so was von begabt als Handwerker, fast ein Künstler. Das 150 Jahre alte Bayerwald-Häuserl hatte er ganz allein renoviert (also bei den schwereren Arbeiten hatten ihm der kleine und der große Scharnagl schon ein paar Mal ein bisserl geholfen). Jetzt strahlte es mit seinem Krüppelwalmdach und der inzwischen gewachsenen grünen Schutzpatina schon von Weitem. Sogar die Holzschindeln hatte er in sehr langer, aber liebevoller Kleinarbeit alle selber gemacht. Alles war so, wie es damals erbaut worden war, nur halt mit heutigem Wohnkomfort. Ein Kunsthistoriker hätte ihm wahrscheinlich einen Orden verliehen. Nicht selten kam es vor,