DIE LANZE (Project 2). Alex Lukeman

DIE LANZE (Project 2) - Alex  Lukeman


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»Du wurdest beinahe von einer Bombe getötet, zwei Schläger sind mit Messern auf dich losgegangen, du wurdest verhaftet und du bist nur müde? Das ist alles? Wie fühlst du dich?«

      »Wie ich schon sagte, müde. Was sollte ich denn fühlen?«

      »Keine Ahnung. Verärgert, zum Beispiel?«

      »Wofür wäre das gut? Was hast du heute gemacht?«

      Carter fühlte, wie sein Kopf sich zusammenzog. Das passierte immer, wenn jemand Gefühle von ihm erwartete. Nach Afghanistan fragte ihn ständig irgendein Seelendoktor, wie er sich fühlte. Das war eine sinnlose Frage. Er hatte immer die gleiche Antwort gegeben. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einem Kind den Kopf weggeballert hätten? Es brachte nichts, darüber zu reden, darin herumzubohren. Er hatte es tun müssen, das war alles. Er wollte nicht darüber nachdenken. Gefühle machten alle nur kompliziert.

      Selena atmete tief ein. »Ich habe mit Ronnie trainiert. Er ist schon was Besonderes, oder?«

      Das war besser. »Darauf kannst du Gift nehmen. Wenn du nicht aufpasst, macht er dich fertig.«

      »Ich habe es ihm aber heimgezahlt. Nach unserem Nahkampftraining entschied er, dass wir auf den Schießstand gehen.«

      Nick lachte. Selena hatte einen schwarzen Gürtel des siebten Grades in Kuk Sool Won. Ronnie war auf verlorenem Posten.

      »Ich vermisse dich«, sagte er. Es überraschte ihn selbst. Es entsprach der Wahrheit. »Ich wollte deine Stimme hören.«

      »Wann kommst du zurück?«

      »Keine Ahnung. Nach der Rede von Rice.«

      »Wenn du wieder da bist, lass uns irgendwo hingehen und zu viel Wein trinken.«

      »Ein Date? Geht klar.«

      Noch ein paar Worte und Carter legte auf.

      Am anderen Ende legte Selena das Telefon aus der Hand. Sie atmete tief aus. Sich mit Nick zu unterhalten, war, als würde man mit jemandem reden, der in einem gepanzerten Fahrzeug lebte. Solange es nicht darum ging, wie er sich fühlte, war alles in Ordnung. Versuchte man aber einzusteigen, dann waren die Türen verschlossen.

      Sie kannte sich mit Panzern aus. Sie war zehn, als ihre Eltern getötet wurden. Der Panzer hielt den Schmerz von ihr fern. Ihrer war aus Erfolgen geschmiedet. Perfektion in allem. Bildung, Sport, es hatte funktioniert wie im Traum. Vielleicht schüchterte das einige Leute ein, aber es hatte funktioniert.

      Zumindest hatte es funktioniert, bis ihr Onkel umgebracht wurde.

      Dann war sie auf Elizabeth Harker getroffen und wurde in Nicks Welt geschleudert. Eine brutale, gefährliche Welt. Und entgegen ihrer selbst war sie – und auch Nick – dieser verfallen. Sie würde niemals zu ihrem ursprünglichen Leben zurückkehren können. Es existierte nicht mehr. Hatte sich in Luft aufgelöst.

      Das machte sie wütend auf sich selbst. Sie hing an einem Mann, der seine Gefühle unter festem Verschluss hielt, sie im Dunkeln wegsperrte. Manchmal war es, als schaute sie in einen Spiegel, wenn sie ihn ansah. Sie war sich nicht sicher, ob sie mochte, was sie da sah.

      Sie ging hinunter in den Fitnessraum des Hotels und begann mit ihren Dehnübungen. Sie war beinahe bereit für die Prüfung für ihren nächsten Gürtel. Auf ihrem Niveau gab es keinen Spielraum für Fehler mehr. Die kleinste Ungenauigkeit und sie würde erst in einem Jahr wieder zur Prüfung antreten können.

      Die nächste Stunde trainierte sie und beobachtete sich dabei in den großen Wandspiegeln. Sie sagte sich, dass jeder, der sich mit ihr anlegen wollen würde, einen riesigen Fehler beginge. Sie sagte sich, sie sei unverwundbar.

      Beinahe glaubte sie es.

      Kapitel 9

      Carter entledigte sich seiner blutigen Kleidung. Sein Rücken verfärbte sich, dort wo er auf den Boden geprallt war. Die Bandscheibenverletzung, die er sich im Himalaja zugezogen hatte, schickte Warnsignale durch seine Wirbelsäule. Er stellte sich unter die Dusche und drehte das heiße Wasser auf, versuchte dabei, die Nähte an seinem Bein nicht nass werden zu lassen.

      Er dachte an Selena, wie sehr sie sich voneinander unterschieden. Es war schwer nachvollziehbar, wie so unterschiedliche Menschen zusammengefunden hatten. Familie zum Beispiel.

      Seine Familie war eine Katastrophe, ein Beispiel für Dysfunktion wie aus dem Lehrbuch. Sein Vater war ein Alkoholiker und ein Bully. Seine Schwester war neurotisch, zornig und mit einem absoluten Arschloch verheiratet. Seine Mutter war der Fußabtreter des Vaters gewesen und jetzt hatte sie Alzheimer. Carter hatte nie viel Geld gehabt und neben der Schule immer schon gearbeitet.

      Selena war von einem liebenden, wohlhabenden Onkel großgezogen worden. Sie war auf die besten Privatschulen gegangen, und als ihr Onkel starb, hat er ihr mehr Geld hinterlassen, als jemals irgendwer ausgeben könnte. Sein Tod hatte sie zum Project gebracht. Bildung, Geld, Hintergrund, Carter und Selena könnten genauso gut von unterschiedlichen Planeten stammen.

      Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, stellte den Wecker und legte sich hin. Er schlief ein.

      Er träumte den Traum.

       Wieder nähern sie sich über die Klippe, das Geräusch der Rotoren wird von den Talwänden zurückgeworfen, ein unnachgiebiger Rhythmus des Todes. Die Siedlung ist, wie sie immer ist, eine miserable Ansammlung von staubverwehten, niedrigen Gebäuden mit flachen Dächern, die umgeben von scharfkantigen, braunen Hügeln, in der unnachgiebigen Hitze braten. Eine breite Lehmstraße verläuft durch die Mitte.

       Sein Team springt aus dem Hubschrauber und landet in vollem Lauf auf der Straße. Das M4 an seiner Wange, seine Marines hinter ihm. Rechts sind Häuser. Links sind weitere Häuser und der Markt. Nur ein Flickenteppich aus baufälligen Ständen und Wänden aus aufgehängtem Stoff. Eine Wolke von Fliegen umschwärmt Dinge, die in der freien Luft am Stand des Metzgers hängen.

       Er führt sein Team am Markt vorbei. Er hält sich von den Wänden fern, um nicht durch eine Wand hindurch von einer Kugel getroffen zu werden. Er hört ein Baby schreien. Die Straße ist verlassen.

       Ein Dutzend bärtiger Figuren erheben sich auf den Dächern, wie die Enten auf dem Schießstand eines Jahrmarktes, und beginnen, mit ihren AKs zu feuern. Die Marktstände zerbersten in einem Feuersturm aus Splittern, Putz und Steinen, die aus den umliegenden Hauswänden brechen.

       Er geht in Deckung. Ein Kind rennt auf ihn zu, ruft dabei etwas über Allah. Carter zögert, eine Sekunde zu lang. Der Junge reißt seinen Arm zurück und schleudert die Granate, als Nick ihn erschießt. Er spürt den Rückstoß des M4. Eins, zwei, drei.

       Die erste Kugel trifft die Brust des Jungen, die zweite seine Kehle, die dritte sein Gesicht. Der Kopf des Kindes zerplatzt in einer Fontäne aus Blut und Knochen. Die Granate gleitet in Zeitlupe durch die Luft … alles wird weiß …

      Er wachte auf, rasendes Herz, schweißgebadet.

      Gespenster. Eindrücke aus der Vergangenheit, seine ganz eigene, persönliche Zeitmaschine.

      Er wartete auf die Dämmerung.

      Kapitel 10

      Der Besucher schaute über die Lichter Jerusalems.

      Ein Handy klingelte, eines von mehreren, die er für solche Anrufe bereithielt.

      »Ja?«

      »Wir haben ein Problem.«

      Der Anrufer sprach deutsch, mit leichtem amerikanischen Akzent. Die Stimme klang rau, wie von Zigaretten oder Whiskey. Er könnte irgendwo gleich um die Ecke sein, oder auf der anderen Seite des Atlantiks. Es gab keine Möglichkeit, das zu bestimmen.

      »Ja?«

      »Unsere Geschäftsstrategie bedarf einer Modifikation. Ein Vertreter eines in Amerika


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