Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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gut«, sagte Eltrud schließlich. »Du wirst bis zum Ende des Winters das Leeren der Netze übernehmen und sieben Nächte bei den Geißen schlafen. Für deine Dreistigkeit wirst du eine Nacht lang fasten und Buße tun, indem du auf den Knien zu den Göttern betest.«

      Inja schnappte erschrocken nach Luft. Das Leeren der Netze und bei den Geißen zu schlafen war erträglich, doch eine Nacht auf den Knien war wie an der Pforte einer namenlosen Hölle zu stehen. Qualvoll und beängstigend. Wenigstens würden ihre Qualen nicht vergebens sein, denn sie hatte Lykke vor dem Ertrinken bewahrt. Dieser Gedanke würde sie trösten.

      Am folgenden Morgen verrichtete Inja ihren Dienst in den Kammern der Gesegneten. Als sie zu Griselles Kammer gelangte, fand sie zu ihrem Erstaunen einen Dolch unter dem Bett. Sie hob ihn auf und betrachtete ihn. Die Gesegneten trugen keine Waffen, also konnte es sich nur um den Dolch eines Beschützers handeln. Aber warum lag er unter der Bettstatt? Neugierig sah sie sich um. Auf dem Laken fand sie milchig-weiße Flecken, ebenso auf einem Tuch im Wäschekorb. Oft genug hatte sie die Laken ihrer Eltern gewechselt, um den Ursprung dieser Flecken zu erkennen. Griselle paarte sich mit einem Beschützer. Scheinbar waren die Gesegneten doch nicht so keusch, wie sie den Konventen glauben machen wollten.

      Kurzerhand steckte sie den Dolch in die Tasche ihres Gewandes. Niemand würde es wagen, danach zu fragen, denn das käme einem Geständnis gleich. Im Schlafsaal versteckte sie ihn unter ihrem Bett und eilte dann zum Strand. Die Gesegnete Trude reichte ihr zwei Körbe mit verschließbarem Deckel für die Fische, ein Messer und ein Tuch, um sich abzutrocknen. Dann erklärte sie ihr, wie sie die Netze leeren musste. Inja hörte nur mit halbem Ohr zu, in Gedanken war sie bei Griselle und dem Beschützer, mit dem sie verkehrte. Welcher war es wohl? Gewiss nicht der Schönling. Der war viel zu jung. Ob die anderen Gesegneten ebenfalls mit den Männern verkehrten? Inja beschloss, beim Richten der Kammern besser hinzuschauen und nach Zeichen zu suchen.

      Das Meer war rau an diesem Morgen. Schäumende Wellen schwappten über den Strand und der Nordwind ließ sie frösteln. Sie entkleidete sich, hängte den Korb über den Arm und stapfte beherzt ins Wasser. Klirrende Kälte umfing sie, die wie Nadeln in ihre Haut stach. Zischend sog Inja die Luft zwischen die zusammengebissenen Zähne. Egal. Sie musste weiter. Je eher sie es hinter sich brachte, umso schneller war es vorbei.

      Die meisten Fische lebten noch und zappelten in ihrem Griff. Ein großer, silbrigglänzender Fisch entglitt ihren Händen und schwamm eilig davon. Als sie das dritte Netz erreichte, hatte sie gerade einmal neun kleine Fische im Korb. Mittlerweile konnte sie nicht mehr stehen und sie musste sich an die Pfosten klammern, um nicht von der Strömung erfasst und ins Meer hinausgespült zu werden.

      Vorsichtig befestigte sie den Korb an dem dafür vorgesehenen Haken, hangelte sich zur Mitte des Netzes, hielt die Luft an und tauchte unter. Im dritten Netz hatten sich acht Fische verfangen, einer davon lang und so dick wie ihre Wade. Sie schnappte den Ersten, strampelte an die Wasseroberfläche zurück und warf ihn in den Korb. Das wiederholte sie mehrere Male, bis sie alle Fische eingesammelt hatte. Am Strand schleppte sie den gefüllten Korb zur Treppe, damit er nicht versehentlich von einer Welle erfasst und davongespült wurde, nahm den zweiten Korb zur Hand und begab sich auf die andere Strandseite. Eine Stunde später hatte sie alle Netze geleert und das trotz gehörigen Seegangs. Dafür war sie bis auf die Knochen durchgefroren. Schnell trocknete sie sich ab, kleidete sich an und brachte die Fische in die Kochkammer hinauf.

      Verwundert über ihre Schnelligkeit nahm Sumilla den Fang entgegen und reichte ihr ein Stück Graubrot und gesalzenen Fisch. Inja nahm das Essen dankbar an, denn obwohl sie erst vor Kurzem gefrühstückt hatte, knurrte ihr Magen nach der anstrengenden Arbeit. Heißhungrig verschlang sie die Sachen noch an Ort und Stelle. Sumilla beobachtete sie amüsiert. »Es war sehr anständig, was du für Lykke getan hast«, befand sie.

      »Ich musste es tun. Lykke wäre ertrunken bei dem Versuch, den Fang einzuholen«, erwiderte Inja mit vollem Mund.

      Sumilla seufzte resigniert. »Jeden Winter verlieren wir drei oder vier Konventen an die Kälte und an die Wölfe, die der Hunger in die Ebene treibt. Unser Leben mag in der Hand der Götter liegen, doch ich verstehe nicht, warum man den Tod noch zusätzlich herausfordern muss.« Sie musterte Inja. »Warum kannst du eigentlich so lange unter Wasser bleiben?«

      Inja zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich kann es einfach. Das Wasser ist wie eine zweite Heimat für mich«, sie zwinkerte Sumilla vertraulich zu. »Wahrscheinlich halten mich alle für eine Hexe.«

      Sumilla runzelte die Stirn. »Sag das nicht. Wenn das die Erhabene hört, wirst du schneller verkauft, als du dieses Brot essen kannst.«

      Schuldbewusst ließ Inja das Brot sinken. Sie hatte doch nur einen Scherz machen wollen. »Verzeih mir. Ich sollte überlegen, bevor ich spreche.«

      Sumilla winkte kopfschüttelnd ab. »Schon gut. Sorge dafür, dass du dich nach dem Einholen des Fangs aufwärmst, damit du nicht krank wirst. Wenn du so schnell bist wie heute und keine Gesegnete in der Nähe ist, kannst du dich hier am Feuer wärmen.«

      Inja schluckte den Bissen hinunter, der plötzlich klebrig und bitter schmeckte. »Ich danke dir.«

      Sumilla wandte sich ab und hob den Deckel des ersten Korbes an. »Du musst mir nicht danken. Wenn wir nicht füreinander sorgen, enden wir auf dem Totenfeld, noch bevor wir fünfundzwanzig Winter zählen.«

      Obwohl die Küche der wärmste Ort im Konvent war, rieselte ein Schauer über Injas Haut. Sumilla sprach die Wahrheit. Dies war kein Ort, an dem man alt wurde.

      Die Nacht der Buße begann nach dem Abendmahl, an dem Inja nicht teilnehmen durfte. Nur zu gut erinnerten sich ihre Knie an das letzte Mal und begannen zu schmerzen, sobald sie den Steinboden berührten. Zudem war sie müde, so dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Sie versuchte, sich auf das Beten zu konzentrieren, doch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machten ihr Herz schwer. Wie ein Stein würde es bis auf den Grund des Ozeans sinken, sollte sie es sich aus der Brust reißen und die Steilküste hinab in das Meer werfen.

      Weinen half, zumindest am Anfang, doch irgendwann fraß der Schmerz in ihren Beinen alle anderen Empfindungen auf. Ihr Leben war wie die ewige Finsternis, voller Qualen und unendlicher Einsamkeit, die göttliche Führung nur eine Lüge. Der einzige Lichtblick war Ban. Er war ihre Hoffnung und ihre Zukunft. Ohne ihn war sie verloren.

      Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie sie die Nacht überstand, doch sie ging vorüber. Am Morgen kneteten und massierten die Konventen ihre steifen Muskeln. Sie wuschen und kämmten sie, verstrichen eine wohltuende Salbe auf den wundgescheuerten Knien und stützten sie beim Gehen, denn wer nicht aus eigener Kraft in den Speisesaal gelangte, der bekam nichts zu essen. Immer wieder nickte Inja während des Morgenmahls ein und Lykke musste sie anschubsen, damit sie nicht vergaß, zu kauen. Ausruhen durfte sie nicht, gleich nach dem Essen wurde sie von der Erhabenen zum Strand geschickt, um den Fang einzuholen, was in ihrem Zustand fast schon einem Selbsttötungsversuch gleichkam.

      Auch an diesem Morgen war die See rau. Schwerfällig entkleidete Inja sich, nahm den Korb und tapste ins Wasser. Brrr. Eisig. Wenigstens weckte die Kälte ihre Lebensgeister, wenn auch nur für eine kleine Weile. Das Einholen des Fangs verlangte ihr alles ab, und als sie zu den tiefer liegenden Netzen gelangte, schaffte sie es kaum, unterzutauchen und sich mit der Kraft ihrer Beine in Position zu halten. Mehrere Fische entglitten ihren zitternden Händen und schwammen davon. Zweimal wurde sie von einer Welle an den Strand zurückgespült.

      Beim Leeren des letzten Netzes geschah es.

      Während sie mit beiden Händen einen heftig zappelnden Fisch aus dem Netz pulte, wurde sie von der Strömung erfasst und zuerst nach unten gezogen und anschließend auf das offene Meer hinausgespült. Strampelnd versuchte sie, einen Pfosten oder das Netz zu ergreifen, doch je wilder sie sich gebärdete, umso schneller entfernte sie sich vom Ufer. Panik übermannte sie. Plötzlich war das Wasser keine Heimat mehr.


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