Geisterkind. Christine Millman
Schaden anrichtete? Langsam öffnete Inja die Lippen. Wasser strömte in ihren Mund. Sie schluckte. Sogleich drang neues Wasser ein. Wieder schluckte sie und versuchte unwillkürlich, zu atmen, doch statt Luft inhalierte sie Wasser. Ein Brennen schoss ihren Hals hinab und verbreitete sich in ihrer Brust, es fühlte sich an als hätte sie spitze Steine verschluckt. Ihre Arme und Beine zuckten, ihr Körper rang mit dem Tod, sie spürte es. Er war schon ganz nah. Plötzlich berührte ihre Wange etwas Weiches, Körniges. Sand. Sie hustete und erbrach einen Schwall Wasser.
Mühevoll hob Inja den Kopf. Eltrud stand nur wenige Schritte entfernt und schaute gebieterisch auf sie hinab. Vergeblich suchte Inja nach Freundlichkeit oder Erbarmen in ihrem Blick, sie fand nur Gleichgültigkeit und Verachtung. Die Beschützer nahmen sie hoch und trugen sie hinauf in den Konvent.
Kraftlos sackte Inja auf den Boden des Tempels.
»Geh auf die Knie, Konventin«, befahl die Erhabene.
»Bitte«, keuchte Inja. »Ich kann nicht mehr.«
»Geh auf die Knie!«, fuhr die Erhabene unbeirrt fort.
Schluchzend rappelte Inja sich hoch und kniete sich hin. Sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihre Beine, der sie wimmern ließ wie ein verletztes Tier. Warum hatte die Erhabene sie nicht einfach sterben lassen?
»Sprich mir nach«, befahl Eltrud. »Ich entsage den Geistern, die meinem Leib innewohnen.«
Ja, ja. Das wollte Inja tun, damit man sie endlich in Ruhe ließ. »Ich … entsage mich ... den Geistern, die meinem … Leib wohnen.«
»Mein Leib und Leben gehören den Göttern.«
»Mein Leib und Leben … gehören den Göttern.« Die Welt drehte sich vor ihren Augen. Keuchend sackte sie vornüber.
»Von heute an, bis ans Ende meines weltlichen Seins stelle ich mich in den Dienst der von den Göttern Gesegneten.«
Inja hustete. Ihr Körper war eine Hölle, in dem ihre Seele keinen einzigen Atemzug länger verweilen wollte. Gut so, denn sie hatte es nicht besser verdient, weil sie gelogen und sich geweigert hatte, die Wahrheit zu erkennen. Geisterkind. Oh ja, das war sie, und weder durch Gebete noch durch Folter würde sich daran je etwas ändern.
»Sprich!«, forderte die Erhabene.
»Von heute an … bis ans Ende … meines weltlichen Seins … stelle ich mich in den Dienst … der Gesegneten.« Ihr flehender Blick bewies der Erhabenen hoffentlich, wie ernst es ihr war.
Die Erhabene nickte zufrieden. »Gut. Die bösen Geister haben dich verlassen. Von heute an bist du rein.«
Erleichtert schloss Inja die Augen. Eines Tages würde sie sich an Eltrud rächen.
5
Krickdorf
Ban schuftete Tag und Nacht. Seine Mutter betrachtete seine Bemühungen mit Argwohn und gestand ihm, dass sie gehofft hatte, dass er sich das Mädchen, wie sie Inja nur noch nannte, aus dem Kopf schlagen würde, sobald sie endlich fort war. Scheinbar wusste sie nicht, wie viel Inja ihm bedeutete. Eines Tages würde er sie freikaufen. Nichts und niemand konnte ihn davon abbringen.
In allen erreichbaren Dörfern fragte er nach einer Betätigung, verrichtete selbst die schwerste und schmutzigste Arbeit, solange sie ihm ein paar Kreuzer einbrachte. Er schüttete die Klärgruben der umliegenden Gehöfte zu, schleppte Lehm aus den Lehmbergen und reinigte die Schwarzbierfässer. Die meiste Zeit jedoch verbrachte er damit, dem Köhler beim Setzen der Meiler zur Hand zu gehen. Anschließend bewachte er die glimmenden Hügel bei Tag und während der Nacht, um sie auf der richtigen Temperatur zu halten und litt dabei nicht nur unter permanentem Schlafmangel, sondern fügte sich auch zahllose Verbrennungen zu. Seine Mutter versuchte, ihn dazu zu bewegen, wenigstens jeden siebten Tag auszuruhen, doch Ban hörte nicht auf sie. Er hatte ein Ziel und das verfolgte er unnachgiebig.
»Solange ich keinen Verwandten habe, der mir den Betrag leihen kann, muss ich ihn mir erarbeiten«, entgegnete er, wann immer seine Mutter ihm ins Gewissen redete. »Erzähl mir doch von meinem Vater. Besitzt er vielleicht Reichtümer? Denn dann könnte ich ihn um Hilfe bitten.«
Natürlich rechnete Ban nicht damit, dass sie ihm tatsächlich von seinem Vater erzählen würde, er wollte sie bloß mundtot machen. Eines jedoch verstand er nicht. Was hatte sie plötzlich gegen Inja einzuwenden? Bisher schien sie das Mädchen gemocht zu haben. Eines Abends, kurz bevor er zur Nachtschicht auf dem Meiler aufbrach, fragte er sie danach.
Lore saß am Tisch und bündelte Kräuter, die sie am Morgen gesammelt hatte. »Ich mag das Mädchen gern Ban, aber sie ist nicht gut für dich«, sagte sie.
»Warum nicht? Liegt es an ihrem Äußeren? Du glaubst doch die Geschichten von dem Geisterkind nicht etwa, oder?«
Lore schnaubte. »Ich messe die Menschen nicht nach ihrem Besitz oder ihrem Aussehen, das solltest du wissen mein Sohn.«
»Was ist es dann? Sag es mir!«
Lore ließ das Kräuterbüschel sinken und starrte ihn an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Den Blick kannte Ban, doch diesmal würde er sich davon nicht einschüchtern lassen, schließlich war er kein Kind mehr.
»Was verheimlichst du, Mutter? Dein Schweigen wird mich nicht von Inja abbringen, das versichere ich dir.«
»Na gut. Wenn du es wissen willst: Sie ist eine Hexe«, stieß Lore knurrend hervor.
Geschockt riss Ban die Augen auf. Das musste ein Scherz sein. »Eine was?«
Lore sah ihn ernst an. »Eine Magiebegabte, eine Hexe, eine Zauberin. Sie weiß es noch nicht, doch eines Tages wird sie ihre Kräfte entdecken.«
Ban erbleichte und sackte auf einen Stuhl. »Dann ist es also wahr, was die Dorfbewohner über sie sagen?«
Lore erhob sich, nahm ein Holzstück von dem Stapel neben der Feuerstelle und legte es in die Flammen. Es knackte und zischte, als die Flammen an dem frischen Scheit leckten. »Sei nicht dumm Ban. Die Leute haben keine Ahnung, worüber sie sprechen. Einfältiges Gesindel, mehr sind sie nicht. Injas Begabung ist ein Segen und kein Fluch, doch hier in Krickdorf wäre sie verkümmert.«
Ban schnaubte. »Genauso wie in Rutten, oder glaubst du, dass sie dort ihre Gabe zu schätzen wissen?«
Lore drehte sich um und sah ihn mit einer Mischung aus Resignation und Härte an. »Nein. In ganz Gotland gibt es keinen Ort für sie.«
Herausfordernd reckte Ban das Kinn. »Woher willst du das wissen? Und warum sollte es mich daran hindern, sie zur Frau zu nehmen?«
Seufzend zupfte Lore Blüten von einem getrockneten Strauch an der Decke, verteilte sie auf zwei Becher und goss sie mit heißem Wasser auf. »Hier. Trink etwas Kräutersud, während ich es dir erzähle.« Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig, ihre Miene hatte sich verfinstert, als wäre sie in tiefer Trauer gefangen. So hatte Ban seine ehrfurchtgebietende Mutter noch nie erlebt.
»Du machst mir Angst.« Bans Hände zitternden, als er den Becher entgegen nahm. Er hatte das sichere Gefühl, als würde sie ihm gleich etwas Wichtiges offenbaren. Wichtiger noch als Injas Begabung.
Ächzend ließ Lore sich auf ihren Schemel fallen. »Seit wann fürchtest du dich vor der Wahrheit? Ich dachte, es verlangt dich danach.«
Sie schlürfte einen Schluck Tee, sah ihn dann an und fuhr mit den Fingern durch sein strubbeliges Haar. »Du ähnelst deinem Vater, weißt du das?«
Ban erwiderte ihren Blick schweigend und wartete. Sein Körper kribbelte vor Aufregung. Endlich würde sie ihm von seinem Vater erzählen.
»Ich war etwa in deinem Alter, als ich ihm begegnet bin«, begann sie. »Groß und hager war er, mit breiten Schultern und einem Blick, der mir die Knie weich werden ließ. Er war auf der Durchreise und verbrachte die Nacht auf dem Gehöft