Geisterkind. Christine Millman
wandte sich ab und rauschte davon. Ein Bewaffneter brachte ihnen eine Schale Buchweizenbrei und einen Apfel. Für Inja schmeckte das Essen bitter, wie eine Henkersmahlzeit und sie aß es nur, weil ihr Magen knurrend nach Essen verlangte. Dann legte sie sich hin, hüllte sich und Lykke in die Decke und starrte die Wagenbespannung an. Ihre Zukunft zog an ihr vorbei wie ein Trauerzug, trostlos und finster.
Sollte Ban wortbrüchig werden und sich von ihr abwenden, würde ihr Leben in Ödnis und Einsamkeit versinken.
Im Zwielicht des anbrechenden Morgens gesellte sich ein Junge zu ihnen. Im Wagen war es noch dunkel, doch Inja sah, dass er sehr jung sein musste, höchstens acht oder neun Winter alt. Ein Wust dunkler Haare zierte seinen Kopf, unter dem ein spitzes Gesicht mit wachen, braunen Augen und schmalen Lippen hervorblitzte. Neugierig musterte er sie. Keine Schüchternheit lag in seinem Blick.
Inja rappelte sich auf. »Sei gegrüßt. Komm setz dich zu uns.«
Der Junge zögerte. »Seid ihr Gesegnete?«
Lykke kicherte und auch Inja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Nein, wir sind Konventen, wie du. Wie lautet dein Name?«
»Mein Name ist Hadwin«, antwortete er.
Ruckelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Hadwin stolperte und fiel gegen die Spindel. Inja fragte sich, warum ein kleiner Junge wie Hadwin wohl in einen Konvent geschickt wurde? Er sah nicht aus, als käme er aus der Gosse. Seine Kleidung war aus gefärbter Wolle und gut erhalten, die Schuhe aus festem Leder waren mit feinen Stichen vernäht, die Sohle zeigte kaum Abnutzungsspuren. Auch roch er frisch gewaschen und wirkte selbstsicher und gut genährt, keinesfalls wie jemand, der in Armut lebte. Während sie noch überlegte, ob sie ihn zu seiner Herkunft befragen sollte, verzog der Junge plötzlich das Gesicht und schluchzte.
Inja ergriff seine Hand. Tröstende Worte zu sprechen war sie durch ihre Geschwister gewöhnt. »Weine nicht, Hadwin. So schlimm wird es schon nicht werden.«
»Doch das wird es«, schluchzte er. »Torge, der Sohn meines Oheims sagte mir, dass sie mich entmannen werden, so wie sie es mit einem Hengst tun, damit er ruhiger wird.«
Lykke schnappte erschrocken nach Luft. »Wie kann er nur so etwas Schreckliches sagen? Was meint denn dein Vater dazu?«
Hadwin schniefte. „Mein Vater ist tot, er wurde hingerichtet wegen eines Vergehens, das er nicht begangen hat. Mutter wurde enteignet und der Besitz auf Geheiß des Königs meinem Oheim übertragen.«
Der arme Junge. Für Inja klang die Geschichte verdächtig nach einer Intrige. Möglicherweise hatte der Oheim die Familie reingelegt. »Das hat Torge sicher nur gesagt, um dich zu ängstigen«, versuchte sie Hadwin zu beruhigen. »Warum sollten sie dich entmannen? Das macht doch keinen Sinn.«
Hadwin zuckte mit den Schultern. »Torge sagt, sie tun das zur Sicherheit damit die Konventen nicht auf die Weiber steigen.«
Das war ein gutes Argument, immerhin gab es im Konvent sehr viele Mädchen und Frauen. Außerdem war Reinheit des Leibes und Tugendhaftigkeit das höchste Gebot, wie Griselle nicht müde wurde zu betonen. Junge Männer waren ungestüm und konnten ihre Begierden auf Dauer nicht unterdrücken. Doch Inja hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen, denn das würde Hadwins Befürchtungen bestätigen. »Dieser Torge ist ein gemeiner Tölpel«, sagte sie stattdessen. »Hör nicht auf seine Worte. Sicher sind sie eine Lüge und er hat sie nur gesagt, um dir Angst zu machen.«
Hadwin rieb die Tränen aus seinen Augen. »Glaubst du das wirklich?«
»Natürlich«, versicherte Inja. »Einen Menschen zu kastrieren ist barbarisch und grausam, ich glaube kaum, dass die Gesegneten einen derartigen Ritus pflegen.«
Nach diesen Worten beruhigte Hadwin sich. Der kalte Knoten in Injas Bauch indessen wurde noch ein wenig größer und kälter. Mit jedem Tag, den sie sich ihrem Ziel näherten, stieg ihre Beklommenheit. Der Konvent zu Rutten war kein guter Ort, das spürte sie so deutlich wie das Heimweh und die Sehnsucht nach Ban, die ihr Herz gefangen hielt.
4
Rutten
Fröstelnd zog Inja die Wolldecke enger, während sie aus dem Einstieg spähte. Die Halbinsel Rutten wirkte wie das Ende der Welt. Steile Klippen ragten wie von Riesenhand erbaute Festungsmauern aus der gotischen See. Felsen, dürres Gras und Moos, soweit das Auge reichte und dahinter das endlose Meer, das in schäumenden Wellen gegen das Gestein brandete.
Hinter diesem Ort gab es nichts mehr.
Die Einsamkeit des Landes drückte wie eine schwere Last auf ihr Gemüt. Ein kräftiger Nordwind riss an der Wagenbespannung und rüttelte den Wagen kräftig durch. Wegen des steinigen Bodens kamen sie nur langsam voran. Immer wieder mussten sie kleineren Felsen und Gesteinsbrocken ausweichen. Das Rauschen der Brandung verdichtete sich zu einem stetigen Donnern, das wie ein dunkler Fluch in Injas Ohren hallte.
Vor den Mauern des Konvents passierten sie einen Zaun, der eine Fläche von fünfzig Doppelschritten umfasste. Dahinter befanden sich aus faustgroßen Steinen gefertigte Grabhügel, die teilweise von Moos und Flechten überwuchert waren.
»Sind das Gräber?«, flüsterte Lykke.
Inja schluckte trocken. »Sieht so aus.«
Würde sie eines Tages in diesem kargen Boden liegen? Von der Welt vergessen? Gleich hinter dem Totenfeld gelangten sie zu einer Mauer, die den weitläufigen Innenhof des Konvents umschloss. Inja reckte den Hals und versuchte, einen Blick zu erhaschen. Sie sah ein Gebäude mit einem kuppelförmigen Dach und einem Säulengang davor, sowie mehrere Flache Häuser. Niemand war zu sehen.
Griselle hielt vor dem Tor, stieg vom Kutschbock und schlug mit einem Pflock gegen das Holz. Inja, Lykke und Hadwin krochen zur anderen Seite und spähten durch den schmalen Schlitz in der Wagenbespannung über den Kutschbock. Eine Konventin öffnete das Tor. Sie war kräftig und von kleinem Wuchs, ihr buschiges, braunes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, darüber eine farblose Haube. Die Konvententracht. Sie hielt den Blick gesenkt und verneigte sich tief, während der Wagen das Tor passierte. Im Innenhof war es still, bis auf das Tosen der Wellen, die unaufhörlich gegen die Steilküste brandeten.
Nachdem sie ausgestiegen waren, führte Griselle sie einen Trampelpfad entlang zu einem flachen Gebäude. »Innerhalb dieser Mauern müsst ihr auf den Wegen bleiben«, erklärte sie.
»Warum?«, fragte Inja.
Griselle warf ihr einen strengen Blick zu. »Es ist eine Regel, an die ihr euch zu halten habt. Da gibt es kein warum.« Sie deutete auf Injas Füße. »Bevor ihr ein Haus betretet, müsst ihr eure Schuhe ausziehen.«
Was für eine seltsame Regel. »Auch im Winter?«
Griselle nickte. »Immer! Das ist das Haus der Gesegneten. Ihr dürft es niemals unter keinen Umständen unbefugt betreten. Im Haus müsst ihr still sein und stets den Kopf gesenkt halten.«
Inja fragte sich, was sie noch alles tun mussten und nicht tun durften. Der Konvent schien nur aus Regeln und Zwängen zu bestehen. Widerwillig streifte sie ihre Schuhe ab und betrat das Haus. Der kalte Stein fühlte sich unangenehm an und ließ Inja frösteln. Sehnsüchtig blickte sie auf die türlosen Kammern zu beiden Seiten, in denen sich Betten, Waschschüsseln und große Truhen befanden. Waren das die Zimmer der Konventen? Eher nicht, denn Griselle hatte das Gebäude als Haus der Gesegneten bezeichnet. Bilder, Spiegel oder Teppiche schienen verpönt, denn Inja entdeckte keinen einzigen dieser Gegenstände.
»Wie ihr sehen könnt, gibt es im Konvent keine Türen. Hier seid ihr niemals allein«, erklärte Griselle.
Der Gang mündete in eine schmale Kammer. Ein Feuer brannte im Kamin, dessen Wärme leider nicht den Steinboden erreichte. Injas Füße waren mittlerweile durchgefroren. Im Türrahmen hielt Griselle inne. »Richtet niemals ungefragt das Wort an die Erhabene Eltrud und verneigt euch, wenn ihr vor sie tretet.«
Beklommen betrat Inja den Raum.