Geisterkind. Christine Millman
bewunderte ihr Geschick. So griesgrämig sich Bans Mutter ansonsten verhielt, im Umgang mir Kranken wirkte sie fähig und beruhigend.
»Ich schaue mir nun deine Vorderseite an.«
Mit Injas Hilfe drehte sie Gretta auf den Rücken, die es widerstandslos geschehen ließ, und untersuchte den Bauch und die Brüste. Ein Schreckenslaut entfuhr Inja und sie schlug schnell die Hand vor den Mund, um den Schrei abzufangen. Tiefe Schnitte zogen sich über die linke Brust ihrer Mutter. Lore warf Inja einen warnenden Blick zu und zog vorsichtig das Hemd über die Verletzungen. »Inja. Geh zu meinem Sohn und warte dort auf mich.«
Inja runzelte die Stirn. »Warum? Ist es nicht besser, wenn ich hier bleibe und helfe?«
»Geh!«, erwiderte Lore barsch. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Inja presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Lore war nicht ihre Mutter, aber sie war eine Erwachsene und so musste sie gehorchen. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen kurzen Blick auf Veit. Er hielt die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig.
Erleichterung durchflutete sie, als sie aus der Tür trat, gemischt mit Gewissensbissen, weil sie froh war, dem Anblick ihrer Mutter zu entfliehen und lieber nicht wissen wollte, was die Söldner ihr alles angetan hatten. Mit gesenktem Kopf machte sie sich auf den Weg, versuchte, die Dorfbewohner nicht zu beachten, die sich auf den Gassen versammelt hatten, um über die vergangene Nacht zu sprechen. Sobald sie Inja erblickten, verstummen sie, klopften sich gegen Lippen und Stirn und starrten sie feindselig an. Überall vernahm Inja das Flüstern, hinter vorgehaltener Hand gesprochene Worte über den Tod ihres Vaters und ihres Bruders, über die Schändung ihrer Mutter und Neils Frau und Tochter. Geisterkind hallte es aus jeder Ecke. Sie ist die Schuldige. Sie bringt Unheil über uns. Sie muss büßen.
Am liebsten hätte Inja sich die Ohren zugehalten, um die hasserfüllten Worte nicht hören zu müssen. Endlich kam Lores Kate in Sicht. Wie eine Insel im tosenden Meer stand sie inmitten der feindseligen Menschen. Inja rannte nun fast zur Tür und stürmte in die Hütte.
Ban saß mit Benlin am Tisch, der so sauber geschrubbt war, dass er fast glänzte. Irmeli saß auf seinem Schoß und lutschte an einem Holzlöffel herum. Als sie Inja erblickte, streckte sie die speckigen Ärmchen aus und lachte vor Freude. Bei dem Anblick schossen Tränen in Injas Augen.
Ban sprang auf und reichte Irmeli an Benlin weiter. Sofort begann sie, zu quengeln, denn sie wollte natürlich auf den Arm ihrer Schwester.
»Sie will zu mir«, sagte Inja. »Gib ihr etwas zu essen, um sie abzulenken.«
»Was ist mit deiner Mutter und Veit?«, fragte Ban statt einer Antwort.
Inja schüttelte den Kopf und winkte ab. Noch war sie nicht in der Lage, über den Vorfall zu sprechen.
Ban nickte Richtung Tisch. »Setz dich. Ich koche einen Tee.«
»Und etwas für Irmeli«, fügte Inja hinzu. »Milch wäre gut.«
Hastig goss er Milch in eine Schale und zupfte ein paar Brocken Brot hinein. Irmeli zappelte aufgeregt, als sie das sah, ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und quietschte ungeduldig. Während Ban den Becher auf den Tisch stellte, gluckste sie vergnügt und schmatzte. Normalerweise entlockte Irmelis unschuldige Freude Inja immer ein Lächeln, doch diesmal blieb sie ernst. Sie beneidete ihre kleine Schwester, die von den schrecklichen Geschehnissen noch nichts mitbekam und nun genüsslich die eingeweichten Brotstücke aus der Milch fischte. Ban bereitete derweil den Kräutertee. Inja setzte sich und ergriff Benlins Hand, der dies ausnahmsweise duldete.
»Vater und Benhard sind tot«, sagte er mit tonloser Stimme.
»Ich weiß.« Inja nickte. »Was ist mit Resna und ihrer Tochter passiert?«
Schmerz verzerrte Benlins Gesichtszüge. »Alle sind tot. Es war grauenhaft.«
Schluchzend schlug er eine Hand vors Gesicht. Ban stellte die Becher mit dem frischgekochten Tee auf den Tisch, nahm neben Inja platz und strich tröstend über ihren Rücken. Inja seufzte tief. Seine Berührung tat gut. »Dein Bruder hat mir alles erzählt«, sagte er. »Weil die Söldner dich nicht finden konnten, haben sie sich Neils Frau und Tochter geholt. Er hat versucht, es zu verhindern, darum haben sie ihn getötet.«
Inja sah von einem zum anderen. »Und was ist in der Schankstube passiert?«
Ban zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Benlin sagt, er hätte sich hinter den Tresen gekauert, die Ohren zugehalten und darauf gewartet, dass die Männer endlich verschwinden. An Einzelheiten kann er sich nicht erinnern.«
Inja schüttelte den Kopf und schlürfte den Tee. Ihr Bruder wollte sich nicht erinnern. Das musste sie akzeptieren. Während sich wohltuende Wärme in ihrem Bauch ausbreitete, schloss sie die Augen und versuchte, das Bild ihrer geschundenen Mutter zu vertreiben, das sofort vor ihrem geistigen Auge erschien. Die tiefen Schnitte auf der Brust, die Inja an klaffende, blutige Münder erinnerten. Erst Irmelis Gebrabbel riss sie aus den schrecklichen Gedanken.
»Möchtest du Tee trinken?«, fragte Inja.
»Babamm«, erwiderte Irmeli und schmatzte, woraufhin Inja in ihren Teebecher blies und ihn an Irmelis Lippen hielt.
»Veit ist verletzt«, berichtete sie. »Mutter ebenfalls. Sie spricht nicht. Was mit Vater, Benhard und den beiden Frauen passiert ist, weiß scheinbar keiner von uns, doch Veits Blick verriet mir, dass die Söldner sie getötet haben.«
Ban kratzte sich am Kopf. Das machte er immer, wenn er angestrengt nachdachte. »Vielleicht sollten wir zur Schankstube gehen und hören, was meine Mutter dazu sagt.«
Benlin sprang auf. »Du hast recht. Ich kann nicht länger herumsitzen und warten.«
Irmeli, die gerade dabei war, ein weiteres Stück Brot aus der Milch zu fischen, begann zu jammern, als sie so unvermittelt von der Schale fortgerissen wurde.
»Ich weiß nicht, Benlin. Ich finde, wir sollten warten, bis Bans Mutter zurückkommt«, gab Inja zu bedenken. Der Gedanke an Zuhause und den Anblick ihrer Mutter ängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Was hatten die Männer ihr angetan, um aus der tatkräftigen Frau ein Häufchen Elend zu machen?
Bevor sie zu einer Entscheidung gelangten, betrat Aberlin die Hütte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und Veit wirkte er vergleichsweise unbehelligt. Weder war seine Kleidung zerrissen und verschmutzt noch schien er, bis auf ein paar Kratzer und ein zugeschwollenes, blaues Auge, ernsthaft verletzt zu sein. Erschöpft sank er auf die Bank neben der Feuerstelle. Die Kinder blickten ihn erwartungsvoll an. Niemand sprach.
»Vater ist tot«, fing Aberlin an und fuhr sich durch das zerzauste Haar. »Und auch Benhard hat‘s erwischt, ebenso Neils, seine Frau und die Tochter.«
Das war keine Überraschung, Inja hatte es gewusst, dennoch war es ein Schock, die Wahrheit ausgesprochen zu hören. »Wieso haben die Soldaten das getan?« Vor Entsetzen klang ihre Stimme ganz dünn.
Aberlin schnaubte. »Weil sie es können. Die Söldnergarde tut, was ihnen in den Sinn kommt. Das ist allgemein bekannt. Vater wollte ihnen nicht verraten, dass er eine Tochter hat und Benhard konnte nicht mit ansehen, wie Veit gefoltert wird, und hat es ihnen schließlich verraten. Vor Wut haben die Männer ihn getötet.« Er sah Inja an. »Glücklicherweise warst du fort, doch dafür musste jemand anderes herhalten. Also haben sie sich Neils Frau und seine Tochter geholt.«
Entsetzt schlug Inja die Hand vor den Mund. Vier Menschen waren tot, weil sie geflohen war. »Neils Tochter ist nur einen Winter älter als ich«, wisperte sie.
»Mach dir keine Vorwürfe«, versuchte Aberlin sie zu beruhigen. »Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie dir das angetan hätten, was sie Mutter und den beiden Frauen angetan haben. Sie verhielten sich wie Tiere, mordlustig und gierig. Irgendeinen Vorwand hätten sie schon gefunden, um uns zu quälen.«
»Was haben sie denn mit unserer Mutter gemacht? Warum ist sie so?«, fragte Inja.
Aberlin