Geisterkind. Christine Millman
Schritte und ein Leises: »Komm Mutter, du musst dich hinlegen.«
Unwillkürlich fragte Inja sich, wie schlimm es um ihre Mutter bestellt sein musste, wenn sie sich von dem gerade mal zwölf Winter zählenden Benlin führen ließ. Und sie fragte sich, wo ihre älteren Brüder waren und Vater. Am liebsten wäre sie geflüchtet, weil sie sich davor fürchtete, was sie gleich erfahren würde.
Benlin hielt die Mutter im Arm, die sich bewegte wie eine alte Frau, schwerfällig und gebeugt. Der Geruch nach Schweiß, ungewaschenen Leibern und getrocknetem Blut entstieg ihrem Gewand. Als sie endlich oben ankam, betrachtete Inja sie entsetzt. Ihr ansonsten so energischer Blick war leer, das Gesicht schlaff und um Jahre gealtert. Getrockneter Speichel und Blut klebten an Mundwinkel und Kinn. Das Unterkleid und der Rock waren an vielen Stellen zerrissen, die Haare zerzaust. Schürfwunden und Blutergüsse zierten ihre Arme, das Gesicht und die Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. In Höhe ihrer Brust durchtränkte ein großer Blutfleck das Gewand. Während Inja wie gelähmt ihre geschundene Mutter anstarrte, schob Benlin sie zur Seite und führte die Mutter an ihr vorbei in die Schlafkammer, wo sie auf das Bett sank und sich nicht mehr rührte. Inja folgte den beiden zögerlich. Etwas Kaltes, Erdrückendes beschwerte ihre Schritte. Langsam kniete sie sich neben das Bett und zwang sich dazu, die Hand ihrer Mutter zu ergreifen, die leblos über den Rand baumelte. Schlaff lag sie in ihrer, die Haut war kalt und klamm. »Mutter, was ist passiert?«
Die Mutter antwortete nicht. Wie eine Tote lag sie auf der Matratze und starrte blicklos an ihr vorbei. Hilfesuchend blickte Inja zur Tür, durch die nun Veit trat. Er war so bleich wie Nebel an einem Wintertag. Dunkle Flecken auf seinem Wams verströmten den Geruch nach Schwarzbier und Schnaps, vermischt mit Schweiß. Er hielt seinen rechten Arm umklammert, der schlaff nach unten hing, als würde er nicht zu seinem Körper gehören. Getrocknetes Blut klebte am Hemdsärmel.
Inja erhob sich und trat auf ihn zu. »Bist du verletzt?«
Er verzog das Gesicht und nickte. Vorsichtig führte sie ihn zu einem Stuhl und half ihm dabei, den verletzten Arm auf den Tisch zu legen. Dann untersuchte sie seine Wunden. Die Finger und der Knöchel waren geschwollen und standen in einem unnatürlichen Winkel.
»Geh und hol Bans Mutter. Beeil dich«, befahl Inja an Benlin gewandt, der regungslos vor der erkalteten Feuerstelle hockte. Zuerst wirkte er irritiert, als hätte er sie nicht verstanden, doch dann nickte er und huschte hinaus.
»Was ist passiert?«, fragte Inja, kaum das Benlin das Haus verlassen hatte. »Wo sind Vater und Aberlin und Benhard? Geht es ihnen gut? Und was ist mit dem buckligen Neils passiert?«
Veit antwortete nicht, doch sein gebrochener Blick bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen.
»Sind sie …?« Inja wagte nicht, das Wort auszusprechen, blickte ihren Bruder nur flehend an. Bitte sag nicht tot.
Veit schluckte schwer, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Aberlin lebt«, wisperte er. »Aber Vater und Benhard und die beiden Frauen sind …«
Seine Brust verkrampfte sich, er schluchzte laut und schlug die unverletzte Hand vors Gesicht. Inja merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Nein!«, stieß sie hervor. »Das kann nicht sein.«
Veit schluchzte in seine Hand. Inja saß hilflos daneben. Wie sollte sie ihn trösten? Ihren älteren Bruder weinen zu sehen war fast noch erschreckender als sein geschundener Leib. Sie starrte zur Tür, in der verzweifelten Hoffnung, ihren Vater oder Benhard zu erblicken. Sie konnten nicht tot sein, das war einfach nicht möglich. Als es klopfte, sprang sie so schnell vom Stuhl, dass er kippte und polternd zu Boden fiel, hastete zur Tür und riss sie auf. Lore stand vor ihr, mit gerötetem Gesicht und finsterem Blick.
»Ich habe Ban gesagt, er soll sich um Benlin kümmern. Der arme Junge ist völlig verstört.« Energisch schob sie Inja zur Seite und betrat das Haus. »Vor Neils Haus hat sich eine Menschenmenge versammelt. Sie sagen, dass die Söldner ihn erwischt haben.«
»Das stimmt«, bestätigte Inja und folgte Lore zum Tisch, wo Veit noch immer um Fassung rang. Mit erfahrenem Griff zog Bans Mutter sein Wams und das Hemd über den Kopf und untersuchte seine Verletzungen. Veit biss die Zähne zusammen und bemühte sich nach Kräften, keinen Schmerzenslaut von sich zu geben.
»Den Arm hat‘s schwer erwischt«, befand Lore nach eingehender Untersuchung. »Alle Finger und der Knöchel sind gebrochen. Der Schnitt am Oberarm ist tief und muss genäht werden.«
Veit nickte. Mittlerweile war er so bleich, dass seine Haut Injas glich.
»Hol einen Krug Schwarzbier und einen großen Kümmler. Der Junge braucht eine Stärkung, sonst kippt er noch um. Außerdem brauche ich Wasser und saubere Tücher«, befahl Lore.
Inja beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen. Während sie Kümmler in einen Becher goss, zog Lore hauchfein gesponnenes Flachsgarn auf eine Nadel.
»Mach den Becher voll. Der Junge wird es brauchen«, befahl sie.
Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtete Inja, wie Bans Mutter zuerst die tiefe Wunde reinigte und anschließend begann, das Fleisch zu vernähen wie einen Riss im Gewand. Veit stöhnte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Obwohl Inja eher nach Wegrennen und Weinen zumute war, ergriff sie seine gesunde Hand und lächelte ihn aufmunternd an. Nachdem die Fleischwunde versorgt war, wandte Lore sich den gebrochenen Fingern zu. »Das wird ein hartes Stück Arbeit. Trink lieber noch einen Schluck Kümmler, Junge.«
Veit tat wie geheißen und verzog angewidert das Gesicht. Inja verstand ihn gut. Das Zeug schmeckte scheußlich.
Lore schnappte die Flasche und füllte den Becher ein weiteres Mal auf. »Und noch einen. Was ich jetzt mache ist nichts für zarte Gemüter, das kannst du mir glauben.«
Furcht flackerte in Veits Augen auf, die Lore ungerührt zur Kenntnis nahm. Mit versteinerter Miene richtete sie seine Finger und umwickelte sie anschließend mit festen Tüchern. Trotz des hochprozentigen Gemischs schrie Veit immer wieder auf und biss sich die Lippen blutig.
»Nun mach schon Inja. Halt seinen Arm«, schnauzte Lore, als Veit die Hand zum zweiten Mal wegzog. Inja versuchte nach Kräften, Lores Anweisungen zu befolgen. Tränen strömten ihre Wangen hinab, während sie den Arm ihres Bruders umklammert hielt. Als Lore fertig war, führte sie den schwankenden Veit in seine Kammer, wo er stöhnend auf die Matratze sank.
»Bis zur Tag und Nachtgleiche darfst du den Arm nicht bewegen«, mahnte Lore und reichte ihm einen Becher. »Hier trink das. Ich hab etwas Schlafpulver hineingemischt, damit du zur Ruhe kommst.«
Veit nahm den Becher und leerte ihn in einem Zug. »Werde ich den Arm je wieder benutzen können?«
Lore schnaubte. »Ich habe mein Bestes getan, alles andere liegt in den Händen der Götter. Dein Arm wird nie wieder seine alte Kraft erlangen, so viel ist sicher.« Sie wandte sich Inja zu. »Was ist mit eurer Mutter? Seit ich hier bin, hat sie sich nicht gerührt. Ist sie verletzt?«
Inja zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon. Sie hat kein Wort gesprochen, hat sich einfach nur hingelegt.«
Lore brummte etwas Unverständliches und ging in die elterliche Schlafkammer, wo Injas Mutter noch genauso lag wie zuvor und die Wand anstarrte, als würde ihr Blick von etwas angezogen, dass nur sie sehen konnte.
Lore blieb ruhig. »Ich grüße dich, Gretta. Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«
Gretta antwortete nicht. Lore setzte sich an den Bettrand und legte ihre Hand auf Grettas Arm. »Darf ich nachsehen, ob du Verletzungen hast, die behandelt werden müssen?«
Die Mutter schwieg. Wie versteinert lag sie da und starrte an die Wand. Inja versuchte zu erkennen, ob sie wenigstens blinzelte. Lore stieß einen tiefen Seufzer aus. »Gut, du willst nicht antworten, das verstehe ich. Doch ich nehme dein Schweigen als Einverständnis.«
Vorsichtig löste sie die zerrissenen Schnüre von Grettas Tunika, hob das Hemd an und begann, ihren Rücken nach Verletzungen abzusuchen.