Geisterkind. Christine Millman
eurer Schwester und je älter sie wird, umso machtvoller werden die Geister in ihr. Euer Vater musste sie töten. Nur so kann er euch schützen.«
Von oben erklang der verzweifelte Schrei der Mutter. Es polterte und etwas fiel klirrend zu Boden. Zornige Worte hallten die Treppe hinab. Im nächsten Moment donnerte jemand gegen die Tür des Schankraums. Umma fuhr herum und auch Aberlin und Veit blickten erschrocken zur Tür. Das Feuer flackerte und warf zuckende Schatten an die Wand.
»Die Geister«, stieß Veit hervor und klammerte sich ängstlich an den Arm seines Bruders.
»Wer ist da?«, rief Umma barsch.
»Hier ist Gessa. Öffnet die Tür! Schnell!«
»Großmutter«, rief Veit erleichtert, rannte zur Tür und entriegelte sie. Gessa trat ein, in den Armen hielt sie das Kind. »Veit hol ein Schaffell und Aberlin, du wärmst Wasser auf. Sputet euch«, befahl sie.
Die Jungen nickten und eilten davon. Offensichtlich genoss Gessa den Gehorsam ihrer Enkelsöhne.
Anklagend deutete Umma auf das Bündel im Arm der alten Frau. »Was tut Ihr mit dem Kind, Gessa? Seht Ihr denn nicht, dass es ein Geisterkind ist? Sie trägt Böses in sich.«
Gessa straffte ihren ohnehin schon beachtlichen Leib und warf Umma einen scharfen Blick zu. »Sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Du bist in Magie so bewandert wie eine Ziege. Wie willst du erkennen, ob dieses Kind Böses in sich trägt? Sie ist ein Winterkind, durch Schnee und Eis gezeichnet. Nichts Verwerfliches oder Bösartiges ist an ihr.«
Veit brachte das Schaffell. Ungeduldig riss Gessa es ihm aus der Hand und schlang es um den Säugling.
Umma schnaubte verächtlich. Gessa war nicht nur überheblich, sondern auch blind und dumm. »Das Kind bringt Unheil und Tod über Euch, das werdet Ihr schon sehen. Sobald der Sturm vorüber ist, gehe ich zum Büttel. Vielleicht wird Euch der Dorfrat zur Besinnung bringen.«
Die beiden Frauen fixierten einander. Gessa, mit dem vollen, grauen Haar, welches sie immer zu einem Zopf geflochten trug und den klaren, blauen Augen, die so gebieterisch auf andere herabsahen. Wie sehr Umma die alte Frau verachtete. Kein Weib sollte derart selbstherrlich sein. Umma dagegen war klein und dicklich, doch dafür hatte sie ein Mundwerk wie eine gefaltete Klinge. Scharf und doppelzüngig. Niemand kam gegen ihre Worte an.
Gessa straffte die Schultern, was ihrer aufrechten Gestalt zusätzlich Größe verlieh. »In diesem Kind fließt mein Blut. Wage nicht, ihr irgendwas Schlechtes zu unterstellen!«
Umma zog die Stirn in Falten. »Aber sie ist …«
Gessa hob die Hand. »Schweig still. Noch ein Wort von dir und ich jage dich in die Nacht hinaus, damit die Wölfe, die du herbeigelockt hast, etwas zu fressen finden.« Sie wandte sich Aberlin und Veit zu, die mit vereinten Kräften einen Topf Wasser über das Feuer hievten. »Wenn ihr fertig seid, tragt ihr das Wasser in die Schlafkammer eurer Eltern hinauf.«
Ohne Umma noch eines Blickes zu würdigen, schritt sie an ihr vorbei und stieg die Stufen empor. Heiße Wut kroch in Ummas Eingeweide. Gessa würde schon sehen, was sie von ihrer Sturheit hatte. Das Kind würde Unglück bringen, das war so sicher wie die untergehende Sonne.
1
Krickdorf
Du bist hell und leuchtend, wie der Mond, mein Winterkind. Wie so oft dachte Inja an die Worte ihrer Großmutter, während sie im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht am Ufer des Murgflusses saß und ihre Zehen in das träge fließende Wasser stippte. Kleine Kreise kringelten sich über das Wasser, wo sie die Oberfläche berührte. Ein neugieriger Fisch schwamm herbei und stupste gegen ihren großen Zeh. Inja kicherte und zog die Füße zurück.
»Ban, sieh mal ein Buntfisch«, rief sie.
Ban, der auf einen Baum geklettert war, um Saftpflaumen zu pflücken, spähte zwischen den Ästen hindurch. »Boah, was für ein Brocken. Versuch ihn weiter anzulocken, ich geh und hole meine Angelrute.«
In Windeseile kletterte er den Baum hinab und rannte Richtung Dorf, welches nur eine kurze Wegstrecke entfernt lag. Lächelnd blickte Inja ihm nach. Ban war ihr bester und einziger Freund. Die Menschen im Dorf mieden sie seit ihrer Geburt, nannten sie Geisterkind, Mädchen mit dem bösen Blick und klopften sich gegen Lippen und Stirn, wenn sie ihr begegneten. Nur Ban hatte sich mit ihr angefreundet. Ban, der als Bastard eines unbekannten Vaters fast ebenso misstrauisch beäugt wurde wie sie.
Inja lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fisch. Er war so schön anzusehen, mit seinen schillernden Schuppen, die wie Silberperlen glänzten. Buntfische waren ein überaus seltener Anblick, denn nur in der Abenddämmerung kamen sie aus den Tiefen hervor und verschwanden wieder, sobald es dunkel war. Obwohl Inja viel Zeit am Murgfluss verbrachte, hatte sie erst einmal in ihrem Leben einen Buntfisch zu Gesicht bekommen, und der hatte gewürzt und gebraten auf einem Teller gelegen, damals, während der Namensgebungsfeier ihrer Schwester. Sie kniete sich hin und beugte sich über die Uferböschung, bis ihre Haarspitzen das Wasser berührten, und besah sich ihr Antlitz, das sich verschwommen auf der Oberfläche spiegelte. Wasserblaue Augen und mondhelle Haut, das Haar von der Farbe der Winterrose und die Wimpern wie Fäden aus gesponnenem Licht. Eine schmale Nase und Lippen, klein und geschwungen wie die ihrer Mutter, doch nicht rot, sondern blassrosa, wie die Haut eines Neugeborenen. Der Anblick bekümmerte sie.
Du bist so weiß wie der Kalkfelsen nordöstlich der Mandaebene, hallte die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Warum bist du nur so bleich?
Ja, sie war blass, blasser als alle anderen. Und zart, fast schon fragil, wie eine Blüte im Wind. Aber sie war auch zäh. Trotzte sie etwa nicht den Anfeindungen der Menschen schon seit der Nacht ihrer Geburt vor vierzehn Wintern? Führte sie nicht den Haushalt und hütete ihre kleine Schwester, während die Eltern tagein tagaus in der Schankstube schufteten?
Der Kopf des Buntfisches durchstieß ihr Spiegelbild und zerteilte es in fließende Formen.
»Schwimm weg«, flüsterte Inja und stupste den Fisch an. Sein Leben sollte nicht in einem Kochtopf enden.
Schimmernde Blasen perlten an die Oberfläche, als sie ihn berührte und er mit einem leisen Platschen in den dunklen Tiefen des Murgflusses verschwand. Dabei zog er einen Schweif aus buntem Licht hinter sich her. Inja lächelte verzückt, streckte die Hände in das Wasser und berührte den Schimmer. Warm fühlte er sich an, wie die ersten Sonnenstrahlen an einem Frühlingstag. Sie schloss die Augen und summte leise, während sie sich vorstellte, wie es wäre, in der schillernden Wärme zu baden, einzutauchen in Kaskaden aus Wasser und Licht. Sie liebte das Wasser. Nur in der klaren, ruhigen Kälte fühlte sie sich zuhause. Kurzentschlossen zog sie ihre Tunika und den Rock aus und watete in das kühle Nass. Noch immer konnte sie die warmen Stellen spüren, die der schillernde Schweif hinterlassen hatte. Sie hielt den Atem an und tauchte unter. Stille umfing sie. Der feurige Glanz der Abendsonne brach sich auf der Wasseroberfläche und hüllte sie ein, wiegte sie wie die tröstenden Arme ihrer Großmutter. Sie schloss die Lider, ließ sich von der Strömung treiben und dachte an das geliebte Gesicht der alten Frau. Faltig, mit blauen Augen, die sie zärtlich betrachteten.
Mein Winterkind.
Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf Injas Gesicht. Jeder im Dorf hatte die alte Frau mit dem herrischen Blick gefürchtet, jeder außer Inja.
Ein Schatten über dem Wasser holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie tauchte auf, öffnete die Augen und blickte sich verwundert um. Unbemerkt war die Abendröte der Nacht gewichen. Der Weg ins Dorf war nirgendwo zu sehen. Wie lange war sie unter Wasser gewesen? Und wie weit hatte sie die Strömung des Flusses fortgetragen?
»Ban?«, rief sie. »Bist du wieder da?«
Niemand antwortete. Hatte er sich versteckt, um sie zu erschrecken? Das tat er oft. Manchmal, wenn sie im Morgengrauen das Haus verließ, um Wasser zu holen oder wenn sie auf der Bank neben dem Gemüsegarten saß und Erdknollen schälte, schlich Ban sich an sie heran