Geisterkind. Christine Millman
sie in sein Lachen mit einfiel und sie gemeinsam kicherten, bis sie völlig außer Atem waren. Doch das war im Dorf, hier am Murgfluss und noch dazu im Dunkeln, war ihr ganz und gar nicht danach, erschreckt zu werden.
Sie stieg aus dem Wasser und suchte nach dem Kreuzdornschössling, neben dem sie ihre Kleider abgelegt hatte. Sie fand ihn dreißig Schritte stromaufwärts. Schnell streifte sie ihr Kleid und die Tunika über das nasse Untergewand und spähte zwischen die Bäume. Im bleichen Licht des Mondes wirkten sie wie finstere Riesen, die ihre Klauen nach ihr ausstreckten, um sie zu ergreifen. Zu ihrer Rechten raschelte es.
»Das ist nicht lustig, Ban«, rief sie. Unwillkürlich dachte sie an Wölfe und Strauchdiebe, die durch die Wälder schlichen und unbescholtene Bürger überfielen. Unermüdlich hatte Großmutter sie ermahnt, die Nacht außerhalb des Dorfes zu meiden, doch Großmutter war im letzten Winter gestorben und seitdem gab es niemanden mehr, der auf Inja achtete.
Sie warf einen kurzen Blick Richtung Dorf. Einsam und verlassen lag der Weg da. Keine Menschenseele weit und breit. Das misstönende Krächzen einer Krähe schreckte sie auf. Der Vogel flatterte von einem Baum herab, landete kaum zwei Schritte entfernt im Gras und starrte sie aus glänzenden, schwarzen Augen an.
Es ist nur eine Krähe, versuchte Inja sich zu beruhigen, trotzdem schlug ihr Herz wild in ihrer Brust und sie wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Der Vogel ließ sie nicht aus den Augen, beobachtete sie wie ein Jäger die Beute. Und plötzlich durchschnitt ein heiseres Röcheln die nächtliche Stille, ein unmenschlicher Laut, der Inja an den letzten Atemzug eines Sterbenden denken ließ. Eine konturlose Gestalt schälte sich aus dem Schatten eines Baumes, mehr ein Schemen, denn eine feste Gestalt. Die Gliedmaßen waren lang und dünn, die Finger wie verbrannte Zweige. Der durchdringende Geruch nach Schimmel und Fäulnis entströmte dem Leib, der schwärzer war als die schwärzeste Nacht, ein Abbild vollkommener Finsternis.
Ein Wiedergänger dachte Inja entsetzt. Was tut er hier, weit weg vom Schattenland? Sie wollte zurückweichen, doch ihre Füße waren wie festgefroren. Die Worte ihrer Großmutter hämmerten in ihrem Kopf. Lausche nie den Lauten eines Wiedergängers, denn sie lähmen dich, sodass du dich nicht mehr rühren kannst.
Die Krähe flatterte auf und ließ sich auf der Schulter des schaurigen Wesens nieder, verschmolz mit ihr zu einer Einheit, die jedes Licht absorbierte. Eisige Kälte kroch Injas Beine hinauf. Das Wesen öffnete den Mund, ein Schlund aus wirbelnder Luft. Ein Säuseln entströmte seiner Kehle, kaum zu verstehende Worte. »Schattenland«, war alles, was Inja heraushören konnte und etwas das ähnlich klang wie Arnyekeh.
Panisch presste Inja die Hände auf die Ohren, drehte sich um und rannte so schnell sie ihre Beine trugen. Steine gruben sich in ihre nackten Füße. Sie ignorierte den Schmerz. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Schon kamen die Lichter des Dorfes in Sicht. Über ihr flog die Krähe, die Schwingen weit ausgebreitet. Inja schrie um Hilfe, während ihre Füße rannten und rannten. Eine Gestalt löste sich aus der hölzernen Einfriedung des Dorfes und eilte auf sie zu.
»Ban«, keuchte sie, nahm die Hände von den Ohren und stürzte sich in die Arme ihres Freundes.
»Inja, was ist passiert?«, fragte Ban. Er klang besorgt.
Sie antwortete nicht, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu ringen. Die Krähe wendete und flog krächzend davon.
»Komm, lass uns ins Dorf gehen. Alus will das Tor schließen.« Hastig schob Ban sie am Zaun vorbei.
»Warum … bist du … nicht zurückgekommen?«, keuchte sie.
»Ich bin zurückgekommen«, antwortete Ban entrüstet. »Doch du warst fort.«
Inja richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Das ist nicht wahr. Ich bin die ganze Zeit über am Fluss gewesen und habe auf dich gewartet.«
Ban schüttelte den Kopf. »Vielleicht bist du im Fluss gewesen, aber auf keinem Fall am Ufer.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie mitleidig an. »Hast du wieder einen deiner Tagträume gehabt und dich vom Flussufer entfernt? Und wieso bist du so nass? Hast du etwa im Fluss gebadet? Das ist gefährlich, das weißt du.«
»Ach lass mich in Ruhe«, erwiderte Inja unwirsch. Sie hatte doch nur im Wasser gelegen und einen Augenblick lang die Augen geschlossen. Oder hatte sie tatsächlich alles nur geträumt? »Sag hast du die riesige Krähe gesehen, die über mir geflogen ist?«
Ban runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Seine Mundwinkel zuckten, bei dem Versuch, ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Du hast geträumt Inja. Was war es diesmal? Ein Klushund oder wieder ein Hakemann? Scheinbar lockt dich das Wasser des Murgflusses in die Welt der Träume.«
Inja schob schmollend die Unterlippe vor. In Bans Augen war sie eine Träumerin. Niemals würde er ihr Glauben schenken. »Ich gehe nach Hause«, sagte sie, wandte sich abrupt ab und stapfte davon.
Ban eilte ihr nach. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken, aber ich schwöre, dass du nicht am Ufer gesessen hast, als ich mit der Angel kam.«
»Schon gut«, erwiderte sie missmutig und schritt noch ein wenig schneller aus. Sie wollte nicht mehr reden.
Kurz darauf erreichten sie die Schankstube, die sich in einer Seitengasse am Dorfrand befand. Die Butzenglasfenster waren hell erleuchtet, gegrölte Sauflieder drangen auf die Straße. Vor der Tür standen zwei Männer neben einer drallen Frau. Sie hatte die Brüste hochgeschnallt und warf Ban einen verführerischen Blick zu, bevor sie sich wieder den Männern widmete. Der Geruch nach Schwarzbier und Schweiß umhüllte die Drei wie eine Wolke. In einer dunklen Ecke stand ein Mann, der sich auf seinen Beinen abstützte, während er sich laut würgend erbrach.
»Willst du reingehen und deinen Eltern sagen, dass du zuhause bist?«, fragte Ban.
Inja warf einen angewiderten Blick auf den Betrunkenen und schüttelte den Kopf. »Mutter sagt, ich bin zu jung, um bei Nacht die Schänke zu betreten. Außerdem wäre ich sowieso nur im Weg.«
»Du zählst vierzehn Winter, ich finde das alt genug«, erwiderte Ban entrüstet.
Inja rollte mit den Augen. Ban war nur einen Winter älter als sie und mochte es gar nicht, für ein halbes Kind befunden zu werden. Dabei sah er natürlich noch lange nicht aus wie ein Mann. Sein flachsblondes Haar war strubbelig und immer ein wenig zu lang und sein Körper so ungelenk und schlaksig, als wäre er zu schnell gewachsen, was er auch war. Innerhalb eines Jahres war er in die Höhe geschossen und überragte Inja nun um eine Kopfeslänge. Inja dagegen war klein und zierlich, und obwohl sich erste Anzeichen von weiblichen Rundungen bemerkbar machten, ähnelte sie mehr einem Kind.
Am Hintereingang des Hauses hielten sie inne. Ban sah sie an, als würde er auf etwas warten.
»Gute Nacht«, sagte Inja, wandte sich ab und stieg die Stufen empor. Benlin, ihr jüngerer Bruder öffnete die Tür. Durchdringendes Geschrei begleitete ihn.
Inja seufzte. »Weint Irmeli schon wieder?«
Benlin stöhnte resigniert. »Ja, Beni und ich tragen sie abwechselnd herum, doch sie hört einfach nicht auf, zu schreien.«
Ohne sich nach Ban umzusehen, betrat Inja das Haus und schloss die Tür. Was war nur mit ihrer kleinen Schwester los, dass sie ständig weinte? »Wo sind Aberlin und Veit?«
»Aberlin ist bei seiner Liebsten«, antwortete Benlin und machte ein angewidertes Gesicht, als wäre das unvorstellbar ekelhaft. »Wo Veit ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich in der Schankstube.«
Benhard kam herbei, in den Armen hielt er Irmeli, Injas Schwester, die noch nicht einmal einen Winter zählte. Vor lauter Schreien hatte sie einen feuerroten Kopf und Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Inja nahm sie auf den Arm und wiegte sie sanft, während sie leise summte. Irmeli beruhigte sich, lehnte schluchzend den Kopf an Injas Schultern und schloss die Augen.
»Habt ihr sie gefüttert und ihre Wickeltücher gewechselt?«
Benlin und Benhard sahen sie empört