Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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sitzt es etwas locker, doch wir haben es genauso gemacht, wie du es uns gezeigt hast«, fügte Benlin hinzu.

      Lächelnd wuschelte Inja ihm durchs Haar, was er mit einem protestierenden Laut zur Kenntnis nahm. Sein Bruder Benhard grinste schadenfroh. Liebevoll betrachtete Inja die beiden Jungen. Wie ähnlich sie einander sahen mit den rotblonden Haaren, den unzähligen Sommersprossen und der schlaksigen Statur. Manche hielten sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit sogar für Zwillinge. Auch ihr fiel es schwer, die beiden nicht als Einheit zu sehen, hatten sie doch in einem Abstand von nicht einmal einem Winter das Licht der Welt erblickt.

      Mittlerweile war Irmeli eingeschlafen. Vorsichtig bettete Inja sie in die Wiege neben dem Esstisch und bedeckte sie mit einem Tuch.

      »Wo bist du so lange gewesen?«, fragte Benhard.

      »Ich war am Murgfluss und bin eingedöst«, log sie, weil sie ihre Brüder nicht mit ihrer seltsamen Vorliebe für das Wasser und unheimlichen Geschichten über Krähen und Wiedergänger ängstigen wollte.

      »Hast du Saftpflaumen mitgebracht?«, fragte Benlin hoffnungsvoll. Er liebte süße Saftpflaumen.

      Inja zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Nein, tut mir leid.«

      »Das glaub ich nicht.« Benhard sprang auf, öffnete die Tür und trat auf die Treppe hinaus. »Ich schaue nach, ob Ban ein paar Pflaumen für uns dagelassen hat.« Kurz darauf kehrte er mit einem verknoteten Tuch zurück. »Ich wusste es doch. Ban lässt uns nie im Stich.«

      Mit einem seligen Grinsen löste er den Knoten, nahm eine Frucht heraus und biss genüsslich hinein. Dunkelroter Saft tropfte über sein Kinn. Inja schüttelte den Kopf und ging zur Feuerstelle, um den Eintopf, den sie am Mittag zubereitet hatte, aufzuwärmen. Dann schnitt sie drei dicke Brotscheiben ab und trug sie zum Tisch. Irmeli schmatzte leise im Schlaf.

      Nach dem Essen befahl Inja ihren Brüdern, sich zu waschen und schlafen zu gehen. Zwar murrten sie darüber, doch sie gehorchten. Auch Inja spürte die Müdigkeit und beschloss, ihren Brüdern zu folgen. Die Geschehnisse am Murgfluss steckten ihr noch in den Knochen. Vorsichtig, damit Irmeli nicht erwachte, trug sie die Wiege in ihre Kammer, streifte ihr Nachtgewand über und legte sich hin.

      Aus der Schankstube drangen Gelächter und das Klappern der Krüge zu ihr hinauf. Trotz der vertrauten Geräusche rieselte ein Schauer über ihren Rücken und ein Gefühl der Beklommenheit überfiel sie, als sie die Kerze neben ihrer Bettstatt ausblies. Schnell kroch sie unter die wärmende Decke und zog sie übers Kinn. In der Dunkelheit stahl sich die Erinnerung an den Wiedergänger in ihre Gedanken. Das Geschehen am Fluss war so wirklich gewesen. Die Geräusche, der Geruch, die Krähe. Das konnte unmöglich ein Traum gewesen sein.

      Schwarze Krähen verkünden Unheil, hatte ihre Großmutter immer gesagt. Eine leise Stimme in Inja flüsterte ihr zu, dass Großmutter Recht hatte. Etwas Unheilvolles würde geschehen. Schon sehr bald. Sie spürte es tief in ihrer Seele, wie eine unsichtbare Verletzung.

      Im Morgengrauen stand Inja als Erste auf, wie sie es immer tat. Müde trug sie die Wiege mit ihrer schlafenden Schwester in die Küche und stieg dann mit der Waschschüssel unter dem Arm die Stufen hinter dem Haus hinab. Die vergangene Nacht war unruhig gewesen, voll wirrer Träume und sie fühlte sich kraftlos und verdrossen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Morgensonne ihre Sorgen vertreiben würde, doch während sie einen Eimer Wasser aus dem Brunnen zog, spürte sie das Unbehagen fast noch stärker als zuvor. Nachdem sie die Waschschüssel gefüllt und in die Küche zurückgebracht hatte, kletterte sie in einen Verschlag hinter dem Gemüsegarten und sammelte die Hühnereier auf. Anschließend erleichterte sie die Ziege um einen Krug Milch. Schon auf der Treppe hörte sie Irmeli weinen. Oh nein. Nicht schon wieder. Seufzend öffnete sie die Tür und spähte in die Küche. Ihr ältester Bruder Aberlin stand mit bloßem Oberkörper über die Waschschüssel gebeugt und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Veit saß am Tisch und hielt sich den Kopf, die rotblonden Haare, die er normalerweise mit einem Lederband bändigte, hingen wirr um seinen Kopf herum. Benlin füllte Buchweizenmehl in den Topf und Benhard deckte den Tisch. Niemand beachtete Irmeli, die sich am Wiegenrand hochgezogen hatte und aus Leibeskräften schrie. Einen Augenblick lang verharrte Inja im Türrahmen und betrachtete die Szene, nahm sie in sich auf wie einen wertvollen Schatz, bevor sie die Ziegenmilch an Benlin weiterreichte und Irmeli aus der Wiege hob. Die Tücher um ihren Po waren durchnässt und rochen nach Urin.

      »Stopft dem verdammten Balg endlich das Maul«, brüllte es aus der der Schlafkammer der Eltern. Erschrocken blickte Inja zur Tür. Ihr Vater reagierte höchst ungehalten, wenn er aus dem Schlaf gerissen wurde, und hatte sie und ihre Geschwister schon oft hart bestraft, wenn sie zu laut waren oder es nicht schafften, ihre kleine Schwester zu beruhigen. Da Irmelis Wohl vornehmlich Injas Aufgabe war, bekam sie die meisten Ohrfeigen verpasst.

      »Hol frische Tücher, schnell«, befahl sie an Veit gewandt. Der brummte unwillig, doch folgte er ihrer Anweisung. Die Angst vor dem Zorn des Vaters war größer als die Müdigkeit. Vorsichtig legte Inja ihre Schwester auf den Tisch und knotete die Windeltücher auf. Der Ausschlag zwischen ihren Beinen war schlimmer geworden.

      »Veit. Bring das Sonnenkrautöl mit.«

      Benhard trat hinter sie und schaute über ihre Schulter. »Was ist mit ihr?«

      »Der Wundausschlag ist schlimmer geworden. Habt ihr das gestern Abend denn nicht bemerkt?« Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

      Benhard zuckte mit den Schultern, derweil trat Veit hinzu und reichte ihr die Tücher und eine kleine Flasche. Inja nahm die Sachen wortlos entgegen, goss etwas Öl auf ein Tuch und betupfte die Pusteln auf Irmelis Haut. Die Kleine strampelte mit ihren dicken Beinchen und schrie. Benhard warf einen besorgten Blick zur elterlichen Schlafkammer und versuchte dann hektisch, seine kleine Schwester mit Grimassen schneiden abzulenken. Erfolglos. Irmeli schrie und zeterte.

      »Man könnte glauben, dass sie eine Tracht Prügel bekommt, so stellt sie sich an«, murrte Aberlin, während er sein Hemd zuschnürte.

      »Sie ist noch klein und weiß es nicht besser«, erwiderte Inja vorwurfsvoll.

      Geschickt wickelte sie die Tücher um Irmelis Gesäß, nahm sie hoch und reichte sie an Benhard weiter. »Nimm sie. Ich muss nach dem Buchweizenbrei sehen.«

      Vor der Feuerstelle trat unvermittelt ihr Vater auf sie zu. Dunkle Ringe unter den Augen und bleiche Haut zeugten von seiner Müdigkeit. »Hab ich nicht gesagt, dass ihr das Balg beruhigen sollt?«, brüllte er, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Das Klatschen hallte durch die Küche. »Deine Mutter und ich schuften die ganze Nacht. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn du dich am Morgen um deine Schwester kümmerst.«

      Inja lag eine trotzige Erwiderung auf den Lippen. Immerhin kümmerten sie und ihre Brüder sich Tag und Nacht um Irmeli, die ihre Eltern kaum kannte und sich eher von Inja als von ihrer Mutter beruhigen ließ, doch sie schluckte die Worte. Es war ratsam, ihren Vater nicht noch mehr zu erzürnen, wollte sie keine weiteren Hiebe riskieren.

      »Entschuldige Vater. Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte sie mühsam beherrscht, wandte sich ab und rührte den Brei herum, der leise vor sich hinblubberte. Ihre Wange brannte von dem Schlag, doch sie verbot sich, vor den Augen des Vaters die schmerzende Stelle zu reiben. Der Vater spuckte ins Feuer und stapfte davon.

      Nach dem Frühstück ging Inja in den Garten, wo sie Unkraut rupfte und Schmirgelschnecken vom Gemüse zupfte. Irmeli saß in einer hölzernen Einfriedung und lutschte an einer Brotkruste herum. Um die Mittagszeit wachten endlich ihre Eltern auf. Für Inja war das die beste Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen. Schnell reichte sie ihre kleine Schwester an die Mutter weiter, nahm den Wäschekorb und verließ das Haus.

      Wie jeden Tag führte ihr Weg sie zuerst zu Ban, der in einer kleinen Kate am östlichen Tor lebte. Niemand wusste, wer Bans Vater war, nicht einmal Ban und je älter er wurde, umso mehr quälte ihn die Frage nach seiner Herkunft. Regelmäßig versuchte er seiner Mutter mit Schmeichelei und Drohungen die Wahrheit zu entlocken,


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