Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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      Die Angst in Benlins Stimme veranlasste Inja dazu, den Kopf zu heben und ihren Bruder anzusehen. Er blickte flehend, wie ein verwundetes Tier. Er fürchtete um Benhards Wohl mehr noch als um das seiner Eltern. Sie nahm seine Hand und zwang sich zu einem Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Benhard wird nichts passieren.«

      »Bist du sicher?«

      »Natürlich. Alles wird gut.« Die Worte kamen ihr glatt von den Lippen und sie hoffte, dass sie sich nicht als Lüge herausstellen würden, noch bevor die Nacht vorüber war.

      2

      Krickdorf

      Dunkelheit senkte sich über das Land, ohne dass die Söldner Krickdorf wieder verließen. Inja befürchtete, dass sie in der Schankstube übernachten würden, wodurch sich die Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen, weiter verringerten. Anfänglich war lautes Grölen von unten zu hören gewesen, doch nach und nach war es still geworden. Eine bedrückende Stille, die Inja wünschen ließ, dass die Söldner wieder grölen und singen mögen. Grölen bedeutete, dass sie gute Laune hatten und feierten. Diese unheilvolle Ruhe hingegen ließ sie das Schlimmste befürchten. Leise öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und lauschte. Vereinzeltes Gelächter und das Wimmern einer Frau drangen zu ihr hinauf. Das musste ihre Mutter sein. Irgendjemand rückte an einem Stuhl. Tischbeine schabten rhythmisch über den Boden.

      »He Wirt, noch eine Runde«, rief ein Söldner. Ein Klatschen erklang, ähnlich wie die Backpfeifen, die der Vater verabreichte, gefolgt von einem weiteren Wimmern.

      »Hast du eine Tochter, Schankwirt?«, fragte ein Mann mit rauer Stimme. »Dein Weib hat ein pralles Hinterteil, doch ein junges Ding würde mir noch besser gefallen.«

      »Es tut mir leid Herr, ich habe nur Söhne«, erwiderte Injas Vater. Seine Stimme triefte vor Unterwürfigkeit und unterdrückter Angst.

      »Vielleicht sollten wir nachsehen, ob er die Wahrheit sagt«, warf ein anderer ein. »Zwei Weiber sind besser als eins. Wer weiß, am Ende versteckt er einen ganzen Stall voller Töchter im Haus.«

      Erschrocken schloss Inja die Tür. Benlin, der hinter ihr gestanden und ebenfalls gelauscht hatte, sah sie entsetzt an. »Bei allen Göttern, was tun die Männer da unten?«

      Stumm schüttelte Inja den Kopf, Panik schnürte ihre Kehle zu.

      Doch Benlin war nicht dumm. Er verstand. Entschlossen packte er sie am Arm. »Du musst verschwinden. Geh zu Ban. Seine Mutter wird dich verstecken.«

      »Komm mit mir«, bat Inja. »Bitte. Diese Männer sind böse und gefährlich.«

      Benlin schüttelte den Kopf. »Ich kann Benhard nicht alleine dort unten lassen. Hau ab, bevor es zu spät ist.« Er öffnete die Tür und schob sie in den Flur.

      »Gib mir Irmeli«, wisperte Inja.

      Benlin huschte zur Wiege, nahm seine kleine Schwester hinaus und legte sie vorsichtig in Injas Arme. Irmeli greinte leise und Inja wiegte sie schnell, damit sie nicht aufwachte. Von unten drang ein dumpfer Schlag und ein Schrei zu ihnen hinauf. Veit.

      »Bitte meine Herren, so glaubt mir doch, ich habe keine Tochter«, flehte der Vater. »Hier, trinkt einen Krug Schwarzbier, es ist das Beste der ganzen Gegend sagt man.«

      »Wir wollen Weiber und nicht dein schales Bier.«

      Etwas fiel klirrend zu Boden, das Krachen splitternden Holzes gefolgt von einem Poltern erklang. Veit stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus und ihre Mutter wimmerte gedämpft, es klang als hätte sie einen Knebel im Mund.

      »Ich glaube du lügst, alter Mann«, knurrte einer der Söldner. »Geh nachsehen Anton.«

      Schwere Schritte näherten sich der Treppe. Inja huschte zur Hintertür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vor der Tür wandte sie sich ein letztes Mal um. Benlin nickte ihr entschlossen zu, straffte sich und stellte sich dann breitbeinig an den Treppenabsatz. In Windeseile stieg Inja die Stufen hinter dem Haus hinab, rannte durch den Garten und verschwand in den dunklen Gassen. Sie hielt nicht inne, bis sie zu Bans Hütte gelangte.

      Bans Mutter Lore öffnete. »Den Göttern sei Dank, du bist rausgekommen.« Scheinbar wusste sie genau, was in der Schankstube vor sich ging. Hastig zog sie Inja durch die Tür und verriegelte sie.

      »Setz Tee auf«, befahl sie an Ban gewandt, während sie Inja zu einem Stuhl führte.

      Die Hütte bestand nur aus einer einzigen Kammer. Von der Decke hingen getrocknete Kräuterbüschel und in einem grob gezimmerten Regal standen Töpfe, allerlei Tiegel, tönerne Gefäße und Schalen. Der durchdringende, aber nicht unangenehme Geruch nach Kräutern und ausgelassenem Fett hing in der Luft. Ganz im Gegensatz zu Injas Zuhause war der Boden gefegt und mit frischem Stroh bedeckt, die Feuerstelle sauber und auf der Bettstatt lagen ordentlich gefaltete Felle.

      Lore nahm die schlafende Irmeli und trug sie zu ihrem Bett. Der flüchtige Gedanke, dass sie Bans Mutter noch nie hatte lachen sehen, schoss Inja durch den Kopf. Lore war energisch und klug, doch der straffe Haarknoten und die fest aufeinandergepressten Lippen, die umrahmt waren von zahllosen, kleinen Falten, ließen sie streng und abweisend wirken.

      Lores Kräutertee und ihre unerschütterliche Art wirkten beruhigend, trotzdem fand Inja keinen Schlaf in dieser Nacht. Wie festgefroren saß sie vor dem Feuer und starrte in die Flammen. Bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zuckte sie zusammen und blickte ängstlich zur Tür, jeden Moment damit rechnend, dass die Soldaten die Tür aufbrechen und sie holen würden. Ban wachte neben ihr, hielt ihre Hand und murmelte Worte des Trostes. Inja hörte ihm nicht zu. Es gab keinen Trost, nur die Sorge um das Wohl ihrer Familie und die schrecklichen Bilder von Folter und Tod, die ihren Geist marterten.

      Nichts ist erschreckender als die Vorstellungskraft hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn sie Angst vor dem Unbekannten hatte. Diesmal jedoch befürchtete Inja, dass ihre Vorstellungskraft nicht annähernd ausreichte, um sich das auszumalen, was in ihrem Zuhause geschah.

      Bei Tagesanbruch verließen die Söldner das Dorf. Das Wiehern der Pferde, raue Stimmen und Gelächter hallten durch den frühen Morgen. Die Männer schienen bester Laune. Kaum hatte die Schar das Westtor passiert, machte Inja sich auf den Weg nach Hause. Überall wurden Türen und Fenster geöffnet, Menschen traten auf die Wege und reckten ihre Gesichter zur Morgensonne hin, froh darüber, unbehelligt und am Leben zu sein. Ohne die neugierigen Blicke zu beachten, rannte Inja an ihnen vorbei.

      Vor der Hütte vom buckligen Neils hielt sie abrupt inne. Die Tür hing nur noch an einem einzigen, verbeulten Scharnier, der Riegel war gewaltsam aus der Verankerung gerissen und fortgeschleudert worden. Neils selbst lag im Türrahmen, mit dem Oberkörper auf der Gasse. Sein Kopf mit den leeren Augen schwamm in einer Lache aus Blut, sein Mund eine blutige Höhle in einem wachsbleichen Gesicht. Entsetzt schlug Inja die Hand vor den Mund.

      Sieh nicht hin, befahl sie sich. Sie wandte sich ab und passierte das Haus in einem großen Bogen. Vor dem Gartentor hinter der Schankstube stockte sie. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Butzenglasfenster, die ebenso unversehrt waren wie die Tür. Still und friedlich lag ihr Zuhause im frühen Morgenlicht, fast so als schliefen die Bewohner noch.

      Inja atmete tief durch, stieg die Stufen empor und betrat das Haus. Die Stille im Inneren war anders als draußen, unheimlich und bedrückend. Totenstille. Es fühlte sich an, als betrete sie einen verfluchten Ort. Langsam schlich sie den Flur entlang, der ihr noch nie so düster erschienen war, und spähte durch die offenen Türen. Truhen und Kommoden lagen umgestürzt auf dem Boden, die Strohmatten waren zerschnitten und überall lagen Kleider verstreut. Meine Kleider. Vor dem Treppenabsatz hielt Inja inne. Die Schankstube lag in schummrigem Licht.

      »Aberlin? Veit?«, rief sie. »Seid ihr da unten?«

      Unangenehm laut hallte ihre Stimme durch die Stille.

      »Bleib


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