Geisterkind. Christine Millman
den standhaftesten Mann um den Verstand bringen würden und dich wünschen ließen, keine Frau zu sein.« Er räusperte sich und sah sie reihum an. »Morgen früh mache ich mich auf den Weg nach Dörsten zu unserem Oheim. Er wird uns dabei helfen, unsere Angelegenheiten zu regeln.«
Inja riss die Augen auf. »Was ist mit Mutter? Kann sie nicht alles regeln? Sie bleibt doch nicht so, oder?«
Eine seltsame Mischung aus Härte und Entschlossenheit lag in Aberlins Blick, als er antwortete. »Ich weiß nicht, ob sie wieder normal wird, aber ich befürchte das Schlimmste. Deshalb müssen wir Vorkehrungen treffen. In drei Tagen findet die Totenfeier statt, danach verlasse ich diesen Ort und suche mir eine Anstellung in Grimmelstadt. Damit ihr über die Runden kommt, werde ich euch regelmäßig einen Teil meines Soldes schicken.«
»Was?«, stieß Inja entsetzt hervor. »Du willst fortgehen? Warum?«
»Irgendjemand muss ein paar Kreuzer verdienen, sonst verhungern wir.«
»Dann führ die Schankstube weiter«, schlug Inja vor. »Du bist alt genug.«
Aberlin mied ihren Blick, das schlechte Gewissen überschattete sein Gesicht. Er schluckte schwer, bevor er antwortete. »Ich kann nicht hierbleiben, nicht nachdem was geschehen ist.«
Ein paar Atemzüge lang herrschte Stille. Inja fühlte sich wie betäubt. Die Soldaten waren fort, doch statt besser wurde alles nur noch schlimmer. Aberlin ergriff ihre Hand. »Verzeih mir kleine Schwester, eines Tages wirst du es vielleicht verstehen.«
Inja entzog ihm ihre Hand und wich zurück. Nein, dafür hatte sie kein Verständnis. »Du läufst davon wie ein Feigling und lässt deine Familie im Stich. Wie soll ich das jemals verstehen?«
Aberlin senkte den Kopf und schwieg. Benlin schluchzte. Irmeli spielte mit der leeren Schale und brabbelte unbekümmert vor sich hin.
»Es tut mir leid.« Aberlin erhob sich abrupt. »Bleibt hier bei Ban. Lore wird euch wissen lassen, wenn ihr wieder nach Hause könnt.«
Nach diesen Worten verließ er die Hütte. Inja saß schweigend da und starrte auf den Tisch. Vater und Benhard waren tot, genauso wie der Geist ihrer Mutter. Veit würde zeitlebens ein Krüppel bleiben und Aberlin rannte davon wie ein Hasenfuß. Die Familie zerbrach. Wer würde für Benlin und Irmeli sorgen? Und für sie? Niemand im Dorf würde ihr, dem Geisterkind, eine Anstellung geben, vor allem nicht jetzt, nach dem Unglück.
Während Benlin seinen Tränen freien Lauf ließ, erstarrten ihre Tränen in kalter Verzweiflung.
»Es wird sich eine Lösung finden«, versuchte Ban sie aufzumuntern. »Dein Oheim wird euch helfen.«
Inja bedachte ihn mit einem frostigen Blick. Erkannte Ban denn nicht, was geschehen würde? Wenn die Familie kein Oberhaupt hatte, würde man sie trennen und in die Obhut Fremder geben, denn der Oheim würde ganz sicher nicht für vier Kinder zugleich sorgen. Aberlins Zuwendungen würden gerade reichen, um der zerrütteten Mutter und vielleicht noch Irmeli das Überleben zu sichern, nicht aber den restlichen Kindern. Ohne Eltern oder einen Vormund waren sie schutzlos und gänzlich der Willkür Fremder ausgeliefert.
»Niemand kann uns helfen«, erwiderte sie kalt. »Wir sind verloren.«
3
Krickdorf
Die Bestattung floss an Inja vorbei wie ein Nebeltag, durch den die schrillen Rufe der Graumeisen hallten wie Hohngelächter. Alles erschien ihr unwirklich und weit entfernt. Die salbungsvollen Worte des Predigers, der in fleckige Tücher gehüllte Körper ihres Bruders, so klein und dünn, der leere Blick ihrer Mutter und das Jammern und Heulen der Dörflerinnen - all das geschah an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit und nicht hier auf dem Totenfeld von Krickdorf.
Die dunklen Wolken am Himmel kündeten Regen an. Eisiger Wind brauste über das karge, mit Totensteinen gepflasterte Feld und trug die Klagen der Trauernden fort. Mit versteinerter Miene blickte Inja in die Grube hinab, in welche die sterblichen Hüllen ihres Vaters und ihres Bruders gebettet wurden. Sie vermied es, ihren Oheim anzusehen, der ihre Mutter stützte, oder Benlin, der sich verzweifelt an das Tuch, das seinen geliebten Bruder umhüllte, klammerte. Oder Veit, der mit zusammengebissenen Zähnen seinen verletzten Arm hielt. Sie wollte es nicht sehen, dieses Bild der Hoffnungslosigkeit.
Eine warme Hand schob sich in ihre. Sie blickte nicht auf, doch Bans Nähe wirkte tröstlich. Sie dachte daran, wie er am Tag zuvor durch das Dorf gewandert war, um etwas über die Nacht in der Schankstube herauszufinden und wie er ihr später erklärt hatte, was es mit den Schändungen auf sich hatte. Was die Soldaten den Frauen angetan hatten, war jenseits ihrer Vorstellungskraft. Doch den Schwerthieb, der Vaters Bauch aufgeschlitzt hatte, so dass seine Gedärme herausquollen und er langsam und elendig verendete, und wie sie Veit jeden einzelnen Finger brachen und schließlich seinen ganzen Arm, stellte sich vor ihrem geistigen Auge umso deutlicher dar. Nach stundenlanger Schändung hatten die Söldner Neils Frau und seiner Tochter die Kehlen durchgeschnitten, hatte Ban erzählt, und ihre Mutter gezwungen zuzusehen. Das war wohl ihre Vorstellung von Spaß. Vor Angst und Schmerz war ihre Mutter verrückt geworden.
Dunkle Erdklumpen rieselten auf den Leichnam ihres Bruders. Benlin schrie auf und begann, wilde Verwünschungen auszustoßen. »Verflucht seien die Söldner des Königs«, brüllte er. »Ihre Leiber sollen in der Dämonengrube verrotten. Ausweiden soll man sie, die Augen mit glühenden Schwertern durchbohren.«
Aberlin umklammerte ihn und zerrte ihn fort. Benlin wehrte sich nach Kräften. »Ich werde meinen Bruder rächen«, schrie er von weitem. »Ich schwöre es. Ich werde nicht eher ruhen, bis die Männer, die ihn ermordet haben, tot sind!«
Es waren Worte in tiefstem Kummer und Verzweiflung ausgestoßen, doch Inja glaubte ihrem Bruder. Benlin und Benhard hatten einander nahe gestanden, wie es zwei Menschen überhaupt möglich war. Niemals würde Benlin den Tod seines Bruders verwinden oder gar vergessen.
Nach der letzten Fürbitte an die Götter setzten sich die Dörfler in Bewegung. Die Bestattung war vorüber. Im Vorbeigehen warfen sie Inja hasserfüllte Blicke zu, spuckten aus, sobald sie in ihre Nähe kamen, oder klopften sich gegen Lippen und Stirn, um sich vor dem bösen Zauber zu schützen. Es war ein offenes Geheimnis, das sie die Schuld an dem Unglück trug. Dass sie es herbeigerufen hatte.
Vergeblich suchte Inja nach dem Ursprung dieses Hasses. Worauf gründete er sich? Sie tat niemandem etwas zuleide, war fügsam und redlich. Warum verachteten die Dorfbewohner sie? Nur wegen ihres seltsamen Äußeren? Das war so dumm.
»Achte nicht auf sie. Komm«, wisperte Ban, als er Injas zornigen Blick bemerkte.
Inja verschränkte die Arme vor der Brust und blieb trotzig stehen. »Nein!« Sie wollte sich nicht vertreiben lassen wie ein räudiger Köter.
Ban warf einen prüfenden Blick in den wolkenverhangenen Himmel, der sich anschickte, seine Schleusen zu öffnen. Schon klatschten erste Regentropfen auf die Erde und zerplatzten. »Nun komm doch. Es fängt an zu regnen.«
»Das ist mir egal.« Inja trat an den Rand des Grabes und kniete sich hin. Sie wollte nicht nach Hause gehen. Ihr Zuhause war keines mehr, es war nur noch ein Haus, in dem fünf Waisen wohnten, die nicht zusammenbleiben durften. Langsam begann sie, Aberlins Beweggründe zu verstehen, doch im Gegensatz zu ihr, hatte er eine Wahl. Er zählte einundzwanzig Winter und war damit alt genug, um zu gehen, wohin auch immer er wollte. Sie dagegen war gefangen an diesem elenden Ort, wo jeder sie hasste und sie hilflos mit ansehen musste, wie ihr Oheim über ihrer aller Zukunft bestimmte.
Verzweifelt krallte sie die Hände in die Erde. Regentropfen vermischt mit Tränen perlten von ihrer Nase und durchweichten ihre Kleidung. »Kann ich heute Nacht bei dir bleiben, Ban?«
Ban kniete sich neben sie. »Willst du denn nicht bei deinen Geschwistern sein?«
Natürlich wollte sie das, aber sie konnte nicht. »Nein.«
»Wenn es dein Oheim erlaubt, kannst du gerne bei