Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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Sein ausladender Bauch drückte gegen den Tisch. »Schluss mit dem Gerede. Meine Schwester war viel zu nachlässig mit dir. Wäre es nach mir gegangen, hätte sie dich schon vor langer Zeit verkauft. Du gehst nach Rutten und fertig. In zwei Tagen wirst du abgeholt.«

      Inja schüttelte den Kopf und tastete nach dem Türknauf. »Eher sterbe ich.« Ruckartig riss sie die Tür auf und stürmte nach draußen.

      Ban stand lässig gegen einen Pfosten gelehnt und sah überrascht auf, als Inja an ihm vorbeistürmte. Ohne ihn eines Blickes zur würdigen, rannte sie Richtung Murgfluss davon. Am Flussufer, wo sie keuchend niedersank, holte er sie schließlich ein. »Warum rennst du, als wäre ein Wiedergänger hinter dir her? Was ist passiert?«

      Inja schluchzte laut. »Sie schicken mich in den Konvent nach Rutten.«

      Erschrocken riss Ban die Augen auf. »Was? Das können sie nicht tun, das ist unrecht.«

      »Sie können und sie werden es tun.«

      »Wann?«

      »In zwei Tagen.« Tränenbäche strömten über ihre Wangen, verfingen sich in den Winkeln ihrer Lippen. Strähnen ihres nassen Haares fielen in ihr Gesicht. Völlig aufgelöst saß sie da und schluchzte, während Ban sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht musterte.

      »Was ist?«, fragte sie unwirsch. »Warum starrst du mich so an? Sag doch was.«

      »Ich ...« Ban zögerte. Röte schoss in seine Wangen. »Ich rede mit meiner Mutter. Vielleicht kann sie deinen Oheim umstimmen.«

      Inja schüttelte den Kopf. »Es ist ja nicht nur der Oheim. Die Dorfbewohner hassen mich schon seit dem Tag meiner Geburt und haben endlich einen Grund gefunden, um mich loszuwerden.«

      Ban atmete einmal tief durch, rückte dann ein wenig näher und ergriff ihre Hand. »Na gut. Die Leute hier sind einfältig, sie wissen es nicht besser, doch wenn der Konvent für Mädchen und Jungen bezahlt, dann ist es bestimmt auch möglich, sie wieder freizukaufen.«

      Schniefend wischte Inja die Tränen fort. »Was meinst du damit?«

      »Ganz einfach. Wenn sie dich wirklich fortschicken, werde ich dich freikaufen.«

      Eine grandiose Idee. Die Sache hatte nur einen Haken. »Wie willst du das anstellen? Du hast weder Geld noch Schätze.«

      Ban warf sich in die Brust, wohl um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich werde hart arbeiten und jeden Kreuzer sparen, bis ich genug beisammenhabe. Es mag einige Winter dauern, doch ich werde nicht ruhen, bis du frei bist.«

      Inja betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert, die Art, wie er sie ansah. Das Unbeschwerte war aus seinen Augen gewichen, und so sicher, wie sie wusste, dass sie in den Konvent nach Rutten geschickt wurde, so sicher wusste sie, dass ihrer beider Kindheit unwiederbringlich verloren war.

      »Versprichst du mir das?« Sie teilte Bans Zuversicht nicht, doch den Funken Hoffnung, den sein Vorhaben in ihr entzündete, hatte sie bitter nötig.

      »Ja«, schwor Ban in feierlichem Ton. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dich zu befreien. Ich schwöre es auf mein Leben und auf das Leben meiner Mutter.«

      Gerührt schlang Inja die Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich, Ban. Du bist alles, was ich noch habe auf dieser Welt.«

      »Ich liebe dich auch«, wisperte Ban. »Mehr als du dir vorstellen kannst.«

      Die Nacht verbrachte Inja bei Lore und Ban. Nachdem, was der Oheim ihr verkündet hatte, war ihr die Schicklichkeit erst recht egal. Was kümmerte es sie, was die Dorfbewohner oder ihr Oheim dachten? Sie hatte nur noch Verachtung für sie. Lore bestand darauf, dass Ban auf dem Boden schlief, doch sobald sie eingeschlafen war, kroch er zu Inja ins Bett und nahm sie in den Arm. Ihr Kopf lag auf seiner Brust.

      »Sobald ich dich freigekauft habe, nehme ich dich zu meiner Frau«, wisperte er, während er zärtlich über ihre Haare strich.

      Inja konnte nichts erwidern. Seine Worte rührten sie zu Tränen. Er hob den Kopf und blickte auf sie hinab. Das offene Haar verbarg ihr Gesicht. Liebevoll schob er die hellen Strähnen zurück. »Du musst nicht weinen. Ich befreie dich, auch wenn du nicht meine Frau werden willst.«

      Inja zog die Nase hoch und sah auf. »Das ist es nicht. Natürlich möchte ich deine Frau werden, doch es tut so weh, dich verlassen zu müssen. Außerdem habe ich schreckliche Angst.«

      Schüchtern tastete sie über seine Brust bis hinauf zu seinem Gesicht. Noch war sein Bart nicht mehr als ein zarter Flaum auf seinen Wangen, eine Vorahnung des Mannes, der er einmal sein würde. Ban erschauerte, wandte sich ihr zu und zog sie an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem zaghaften Kuss, der jedoch rasch drängender wurde, bis das, was einst ihre Freundschaft gewesen war, zu Leidenschaft wurde. Überdeutlich spürte Inja die Wärme seiner Haut und die harten Muskeln unter seinem Hemd.

      »Habe ich nicht gesagt, dass du auf dem Boden schlafen sollst?« Lores Stimme beendete den Kuss abrupt. »Glaubt ihr etwa, ich will schuld daran sein, wenn eine Unreine den Konvent betritt? Mach, dass du aus dem Bett kommst, Junge, aber schnell!«

      Ban erschrak so sehr, dass er fast von alleine aus dem Bett plumpste. »Entschuldige Mutter.«

      Inja kroch beschämt unter die Decke. Lore brummte ungehalten. »Ich weiß, dass ihr glaubt, füreinander bestimmt zu sein, doch nicht jetzt und nicht hier. Inja muss in den Konvent, dagegen können wir nichts tun und dort wird sich zeigen, ob ihr einander auch wirklich verdient.«

      Zwei Tage später stand Inja an der Wegkreuzung, einen einstündigen Fußmarsch von Krickdorf entfernt. Nur Veit und Benlin hatten sich von ihr verabschiedet. Ihre betroffenen und verzweifelten Mienen schnitten wie Dolche in Injas Herz. Aberlin war früh am Morgen des vergangenen Tages aufgebrochen, war heimlich aus dem Haus geschlichen wie ein Dieb in der Nacht, und Irmeli war noch zu klein, um zu verstehen, was geschah. Die Dorfbewohner klopften sich wie üblich gegen Lippen und Stirn, sobald sie Inja erspähten, und gingen dann ihrer Wege als wäre nichts geschehen.

      Ban, der Oheim und der Köhler begleiteten Inja, wobei Letztere dies taten, weil sie sichergehen wollten, dass sie nicht davonlief.

      Inja mied Bans Blick, um nicht den Schmerz in seinen Augen sehen zu müssen, der auch ihr Herz erfüllte, doch sie hielt seine Hand fest umklammert. Erst als sich ein Wagen näherte, wagte sie es, ihn anzusehen. Er war so ernst wie nie zuvor. Seltsam. Der Junge von einst schien über Nacht zu einem Mann geworden zu sein.

      »Denk immer an das, was ich dir geschworen habe«, sagte er.

      Inja nickte stumm. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Worte konnten nicht ausdrücken, was sie empfand.

      Der Wagen kam einen Doppelschritt entfernt rumpelnd zum Stehen. Eine verhüllte Frau und zwei bewaffnete Männer stiegen aus. Die Frau war etwa im Alter von Bans Mutter, trug ein langes Gewand aus ungefärbter Sommerwolle, das bis zum Hals geschlossen war und eine Haube, unter der ein brauner Zopf herausschaute, der straff geflochten über den Rücken fiel. Nichts Weiches war in ihrem hageren Gesicht, nur Kanten und Spitzen. Die Bewaffneten trugen lederne Beinkleider, Tuniken aus Leinen und einen gut bestückten Waffengurt. Sie nahmen links und rechts neben der Frau Aufstellung und verschränkten abwehrend die Arme vor der Brust.

      »Seid gegrüßt. Ich bin Griselle, gesegnete Dienerin der Götter. Ist das die neue Konventin?« Sie musterte Inja abschätzend. In ihren Augen lag eine kalte Gleichgültigkeit, die Inja einen Schauer über den Rücken jagte.

      Der Oheim verneigte sich ehrerbietig. »Ja Herrin.«

      »Sie ist so blass und zart. Ist sie krank?«, fragte Griselle.

      »Nein, Gesegnete. Sie ist ein Winterkind.« Anspannung klang aus seiner Stimme, die in Inja Hoffnung aufkeimen


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