Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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die Zeremonie von kurzer Dauer. Nach der Reinigung im Salzmeer muss die neue Konventin einen Tag und eine Nacht lang fasten«, sie wandte sich Inja zu. »Da du aber ein Winterkind bist, wirst du zwei Nächte und zwei Tage lang deinen Leib zu einem Ort machen, den kein böser Geist freiwillig heimsucht.«

      Inja schluckte. Zwei lange Tage ohne Essen, wo sie doch jetzt schon schrecklichen Hunger hatte.

      Am Abend versammelten sich die Konventen und Gesegneten auf dem Platz im Hof, um Injas und Lykkes Reinigung zu zelebrieren. Die rote Sonne versank hinter dem Horizont und tauchte die Mauern des Konvents in flammendes Licht. Die Erhabene Eltrud führte sie die Steinstufen hinab an den Strand, wo sie bis auf das Untergewand entkleidet und von zwei Gesegneten zum Wasser geleitet wurden. Lykke zitterte am ganzen Leib. Sie konnte nicht schwimmen und fürchtete, zu ertrinken.

      »Konventinnen. Wir reinigen euren Leib vom Schmutz dieser Welt«, rief Eltrud.

      Fackeln wurden entzündet. Die Konventen knieten im Sand, und senkten demütig die Häupter. Inja fiel auf, dass keine alten Frauen unter ihnen waren, nicht einmal jemand im Alter ihrer Eltern. Ob das gut oder schlecht war, konnte sie noch nicht beurteilen, aber es machte sie zumindest misstrauisch.

      Das Wasser leckte an Injas Füßen, es war kalt und weich, körniger Sand schob sich zwischen ihre Zehen. Der zeremoniellen Reinigung blickte sie verhältnismäßig gelassen entgegen. Wasser war ihr Freund. Trotzdem fing ihr Herz an zu pochen, als die beiden Gesegneten und zwei Beschützer sie packten und tiefer in das Wasser trugen. Lykke neben ihr schluchzte und zappelte. Als sie bis zu den Hüften im Wasser standen, hielten sie inne und drückten Inja nach unten. Bevor das Wasser über ihr zusammenschlug, hielt sie rasch den Atem an. Kälte umfing sie und die vertraute Stille. Über sich sah sie die verschwommenen Gesichter der Beschützer, spürte die Hände, die sie unter der Wasseroberfläche hielten. Ein kleiner Fisch schwamm vorbei, berührte ihre nackten Beine und entlockte ihr ein Lächeln. Er verschwand, als das Wasser plötzlich in Wallung geriet, weil Lykke neben ihr anfing zu zappeln. Inja drehte den Kopf in Richtung ihrer Leidensgefährtin. Sie sah schäumendes Wasser und wild um sich schlagende Arme und Beine. Die Beschützer hielten Lykke unbarmherzig unter Wasser. Wollten sie das Mädchen etwa ertränken?

      Inja streckte den Arm aus und versuchte, Lykke zu berühren, ihre eigene Gelassenheit auf das Mädchen zu übertragen, doch sie war zu weit fort. Und dann wurde Lykke plötzlich emporgehoben und verschwand aus ihrem Blickfeld. Inja sah wieder nach oben. Das Wasser beruhigte sich. Wabernde Kreise aus Licht tanzten über die Wasseroberfläche, als am Strand Fackeln entzündet wurden. Nach und nach wurde die Luft weniger, dennoch blieb sie ruhig. Ihre Gedanken wanderten zu Ban und seinem Versprechen. Sein jungenhaftes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Er lächelte sie an und sie verspürte den Wunsch, ihn zu küssen, wie in der Nacht als sie bei ihm übernachtet hatte. Irgendwann wurde die Luft knapp. Inja sah auf die Hände, die sie unbarmherzig unter Wasser drückten. Warteten sie darauf, dass sie zu zappeln begann? Sie harrte aus, zählte die Wellen, die über sie hinwegspülten. Zehn, zwanzig, dreißig Mal. Der Drang zu atmen überkam sie mit überraschender Dringlichkeit. Vorsichtig versuchte sie, sich von den Händen der Beschützer zu befreien. Erfolglos. Ihr Körper schrie nach Luft. So fest sie konnte trat sie um sich, strampelte gegen den unbarmherzigen Griff der beiden Männer.

      Sie musste atmen. Sofort!

      Ihr Mund öffnete sich und plötzlich war da kalte Luft, die in ihre gierigen Lungen strömte. Sie wurde an Land gezogen und auf die Füße gestellt. Verwirrt blickte sie sich um. Die Fackeln fauchten im Wind, Wasser umspülte ihre Knöchel, wann immer eine Welle über das Ufer rollte.

      Die Erhabene Eltrud beäugte Inja mit eisigem Blick, als wäre sie ein widerliches Getier, das irgendjemand aus Versehen aus dem Meer gezogen hatte. Doch da war noch etwas anderes in ihren Augen. Furcht. Vor was fürchtete sie sich? Vor Inja wohl kaum.

      Langsam erhob die Erhabene sich. »Knie nieder, Konventin!«

      Inja tat wie geheißen.

      »Äußerlich bist du gereinigt«, fuhr Eltrud fort und es klang alles andere als überzeugt. Hoch erhobenen Hauptes wandte sie sich zum Gehen. Inja folgte der Prozession die Stufen hinauf Richtung Gebetshaus. Das Untergewand hing an ihr wie nasse Schlingen, Wasser triefte auf den Boden. Sie fühlte sich schwach und hungrig und sie fror.

      Vor dem Eingang hielt Eltrud inne. »Bis zum Morgengrauen wirst du an der Pforte des Tempels knien und die Götter um eine reine Seele bitten.«

      Die Prozession entfernte sich. Ein Beschützer drückte sie auf die Knie und blieb bei ihr, um über sie zu wachen. Während sie auf den kalten Steinen kniete, spähte sie in das Gebetshaus, das im Konvent als Tempel bezeichnet wurde. Für einen Tempel fand Inja das Gebäude allerdings ziemlich schlicht. Es strahlte keinerlei göttliche Erhabenheit oder Ruhe aus. Weder gab es Bänke noch eine andere Sitzgelegenheit, nur drei hölzerne Altäre, die mit Opfergaben bestückt waren, sowie ein grobes, aus Stein gemeißeltes Bildnis der Götter Huam und Geb.

      Die Nacht war kalt, ein frischer Wind wehte über das Plateau. Inja bibberte. Hoffentlich würde das Untergewand schnell trocknen. Nach kurzer Zeit begannen ihre Knie, zu schmerzen. Unbehaglich rutschte sie auf dem Steinboden herum. Um sich abzulenken, sah sie in den Himmel hinauf und betrachtete die Sterne, die hier, in der klaren Weite Ruttens viel heller leuchteten als in ihrem Heimatdorf. Ihre Gedanken wanderten zu Ban und ihren Geschwistern, die unter demselben Himmelszelt lebten. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Injas Füße kribbelten unangenehm und der Schmerz in den Knien zog mittlerweile bis in den Rücken hinauf. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie, abwechselnd ein Bein zu entlasten, was den Druck auf das andere Knie jedoch um ein Vielfaches erhöhte.

      »Was passiert, wenn ich es nicht schaffe?«, fragte sie an den Wächter gewandt.

      »Du musst«, erwiderte er gelassen.

      »Und wenn nicht?«

      »Wenn du Glück hast, musst du fortan bei den Geißen schlafen und für den Rest deines Lebens niedere Dienste verrichten. Wenn du Pech hast, wirst du nach Amhorst gebracht und auf dem Sklavenmarkt verkauft.«

      Inja schnappte erschrocken nach Luft. Amhorst war ein Sündenpfuhl, den kein Gotländer freiwillig betrat. »Aber ich bin keine Sklavin.«

      »Der Konvent hat dich gekauft, also kann die Erhabene über dich verfügen«, erwiderte der Mann ungerührt. »Wenn du nicht rein wirst, kann sie dich zu einer Sklavin machen.«

      Wieder dachte Inja an Ban. Um seinetwillen musste sie durchhalten, denn wenn man sie nach Amhorst brachte und verkaufte, würde er sie niemals finden und ihre Hoffnung auf Freiheit wäre für immer verloren.

      Die Nacht schritt voran. Der erste Bewacher wurde von einem grimmig dreinblickenden abgelöst, der die Arme vor der Brust verschränkte und Inja jedes Mal argwöhnisch beäugte, sobald sie sich rührte, als befürchtete er, dass sie aufstehen und weglaufen oder die bösen Geister aus ihr herausspringen würden. Mittlerweile spürte sie ihre Füße nicht mehr, ihre Muskeln zitterten unkontrolliert und die Qual in ihren Knien und im Rücken wurde so unerträglich, dass sie sich wünschte, ohnmächtig zu werden. Hunger, Durst, Müdigkeit und Schmerz trugen sie auf dornigen Schwingen durch die Nacht und verscheuchten jeden hoffnungsvollen Gedanken. Die Sterne verschwammen zu bleichen Schemen und die Tür zum Tempel glich mehr und mehr einem riesigen, schwarzen Maul, das sie zu verschlingen drohte.

      »Oh Göttin des Erbarmens steh mir bei«, flehte sie immer wieder. »Hilf mir durch den Schmerz und die Verzweiflung. Gib mir Kraft für einen neuen Morgen.«

      Kurz vor Morgengrauen kippte sie mit einem verzweifelten Schluchzen vornüber und stützte sich auf dem Boden ab. »Helft mir, ich flehe euch an.«

      Ihre Stimme war nur noch ein Wimmern. Ihr Kopf sank auf den Stein. Jeden Augenblick würde sie zur Seite kippen, das spürte sie, doch es war ihr egal. Sollte die Erhabene sie ruhig auf dem Sklavenmarkt verkaufen, es konnte kaum schlimmer sein als an diesem elenden Ort.

      »Steh auf!


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