Geisterkind. Christine Millman
Grund, auf dem nur mit größter Fürsorge und Anstrengung etwas wachsen wollte. Die extra Brotration machte die schwere Arbeit lange nicht wett und Inja hatte fast immer Hunger.
Noch vor dem Morgengebet musste sie die Kammern der Gesegneten reinigen und die Nachttöpfe leeren. Glücklicherweise waren nicht alle achtzehn Kammern bewohnt. Inja zählte insgesamt elf Gesegnete plus die Erhabene Eltrud, die jedoch in einer besonderen Kammer mit Tür nächtigte. Ihre Kammer zu betreten, war strengstens untersagt.
Nach dem Morgengebet wusch Inja sich und machte sich anschließend mit den Konventinnen Anaé und Mina auf den Weg in die von Moos und Unkraut überwucherte Steinwüste, die allgemein Garten genannt wurde. Wie oft sie auch die Steine und Felsen aus dem Boden klaubten, spätestens nach drei Tagen waren neue da. Die jungen Frauen machten sich die schwere Arbeit erträglich, indem sie Lieder sangen, Steine um die Wette warfen oder Würmer aus der Erde zogen und zählten, wer die meisten oder den längsten gefunden hatte. Wenn sie ihr Tagwerk beendeten, brachten sie die kargen Erträge in die Vorratskammern, wo die Köchin Sumilla über die Abgaben wachte und genaustens über jeden Erdapfel, jede Beere, Zwiebel, Blauknolle und Rübe Buch führte. Dass sie zu ihrer Graubrotration am Mittag auch die ein - oder andere Rübe oder Beere verdrückten, behielten sie für sich. Inja sah Lykke nur während der Essenzeiten, den Gebeten und im Schlafsaal, wo sie jedoch meistens zu müde waren, um mehr als drei Sätze zu wechseln. Während der Mahlzeiten war Reden strikt untersagt, ebenso während des stillen Gebets am Ende der Andachten.
Lykke fertigte Schmuck, was ihr leidlich Freude bereitete. Doch auch sie trug die Zeichen schwerer Arbeit, denn beim Fertigen des Schmucks kam es oft vor, dass sich die Konventen schnitten, in den Finger stachen oder solange an einer Muschel feilen mussten, bis die Finger geschwollen und taub waren.
Seit drei Monden weilte Inja nun bereits an diesem Ort, doch es kam ihr vor wie ein einziger, nicht endenwollender Tag, nur unterbrochen durch kurze Phasen der Dunkelheit. Nie bekamen sie frei und ruhen durften sie nur in der Nacht. Der Konvent war kein heiliger Ort, er war ein Arbeitslager, das war Inja bereits nach wenigen Tagen bewusst geworden. Anfänglich hatten die anderen Konventinnen sie misstrauisch beäugt und sie gemieden, doch mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihr seltsames Äußeres und mittlerweile fragte niemand mehr nach ihrer unnatürlich hellen Haut und dem weißen Haar.
Zwischen dem Reinigen der Kammern und dem Morgengebet hatte Inja es sich angewöhnt, an den Rand des Felsplateaus zu steigen und die aufgehende Sonne zu betrachten. Wenn die ersten Strahlen die scharfe Linie zwischen dem Meer und dem Horizont überwanden, und das Wasser in glitzerndes Licht tauchten, schöpfte sie Kraft und Hoffnung. Eines Tages, so schwor sie sich in diesen Augenblicken, würde sie diesem Jammertal entfliehen und ein besseres Leben führen.
An diesem Abend, Inja hätte nicht zu sagen vermocht, welcher Tag es war, erhob sich die Erhabene, um die Aufgaben zu verteilen. Inja saß auf der Bank an einem langen Tisch und hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie war müde und ihr Rücken schmerzte, nachdem sie den ganzen Tag lang Steine aus dem Boden gegraben hatte. Mittlerweile war es auch am Tag frostig und der Nordwind trug den Geruch des nahenden Winters herbei. Obwohl sie den Gedanken an Ban möglichst verdrängte, spukte er an diesem Tag fast unablässig in ihrem Kopf herum. Wie lange mochte es dauern, bis er genug Geld beisammenhatte, um sie auszulösen? Und was würde sie tun, sollte er es nicht schaffen? Neben ihr schnappte Lykke plötzlich nach Luft.
Inja sah auf. »Was ist?«
»Ich soll morgen die Netze leeren.« Lykkes Augen schwammen in Tränen.
»Aber du kannst nicht schwimmen. Hast du das der Erhabenen nicht gesagt?«
Lykke wischte sich über die Augen und zog die Nase hoch. »Sie wissen es. Doch du kennst die Erhabene. Sie ist gnadenlos. Erinnerst du dich nicht, wie sie dich beinahe hätte ertrinken lassen? Die Götter allein entscheiden über Leben und Tod sagt sie.«
Was hatten die Götter damit zu tun, wenn die Erhabene ein Mädchen, das nicht schwimmen konnte, ins Meer schickte? Das war kein göttlicher Wille, sondern menschliche Willkür. Entrüstet sah Inja zum Tisch der Gesegneten. Eltrud saß am Kopfende und sah in ihre Richtung, ein kleines gemeines Lächeln auf den Lippen. Wut stieg in Inja empor. Die Erhabene tat das mit Absicht. Aber warum? Um Inja zu ärgern? Um sie herauszufordern? Was auch immer diese Frau dazu bewogen hatte, sie würde es sich nur anders überlegen, wenn Inja ihr die entsprechende Gegenleistung bot.
»Ich werde mit der Erhabenen reden«, versprach Inja an ihre Freundin gewandt.
Lykke wirkte regelrecht erschrocken. »Tu das nicht. Sie kann dich nicht leiden, das weißt du. Wahrscheinlich machst du es nur schlimmer, wenn gerade du dich für mich einsetzt.«
»Wahrscheinlich hat sie genau das im Sinn«, zischte Inja. »Ich muss zu ihr gehen und herausfinden, was sie dazu bewogen hat und was sie will. Vielleicht ist sie zufrieden, wenn ich anbiete, die Netze zu leeren.«
Lykke schüttelte den Kopf. »Niemals. Sie weiß, wie gut du im Wasser zurechtkommst.«
Lykke hatte recht. Wenn Eltrud den Tausch nicht als Strafe empfand, würde sie sich nicht darauf einlassen. Das vermeintliche Opfer musste glaubhaft sein. »Egal. Ich gehe trotzdem zu ihr. Mir fällt schon was ein.«
»Ich höre Stimmen statt gesegnetes Schweigen«, rief Griselle mit strenger Stimme.
Inja und Lykke verstummten und beugten sich über ihre Teller.
Trotz Lykkes Warnung machte Inja sich nach dem Abendgebet auf den Weg zu Eltrud. Wie üblich saß sie in ihrer Kammer auf dem gepolsterten Stuhl, flankiert von ihren beiden engsten Vertrauten. Inja verneigte sich unterwürfig. »Erhabene, bitte hört mich an.«
Eltrud nickte zum Zeichen, dass Inja sprechen durfte. Ihr spitzes Gesicht zeigte keine Regung, doch ihre Augen blitzten erwartungsvoll.
»Lykke kann nicht schwimmen. Da die Götter mich mit diesem Talent gesegnet haben, biete ich Euch an, auf unbegrenzte Zeit an ihrer statt die Netze zu leeren.«
Die Erhabene musterte Inja kalt. »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«
Inja hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Was sollte sie auch sagen? Jedes Wort würde die Erhabene absichtlich missverstehen.
»Unsere Regeln entsprechen dem Willen der Götter. Die Konventin Lykke muss ihren Teil erfüllen wie jede andere auch. Es ist unerheblich, ob das ihren Fähigkeiten entspricht oder nicht.«
Heißer Zorn kochte in Inja hoch. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte Eltrud Lykkes Leben aufs Spiel. Warum tat sie das? »Aber sie wird es nicht schaffen, zu den Netzen hinabzutauchen und wahrscheinlich ertrinken bei dem Versuch«, stieß Inja verzweifelt hervor. »Das könnt Ihr unmöglich wollen. Schließlich ist sie eine gute Arbeitskraft. Wer weiß, ob das nächste Mädchen so billig und geschickt ist wie sie.«
Zorn umwölkte Eltruds Gesicht, während sie ihr Stickzeug zur Seite legte und sich langsam erhob, bis sie auf Inja hinabblickte wie auf einen schleimigen Wurm. Die Stille, nur durchbrochen von dem Knistern und Fauchen des Kaminfeuers, senkte sich wie Winternebel über den Raum. Inja sank das Herz. Mit ihren Worten hatte sie zugegeben, dass sie genau wusste, um was es im Konvent ging. Dass es sich ganz und gar nicht um einen heiligen, gottgefälligen Ort handelte.
Die Erhabene neigte den Kopf zur Seite. »Ich hielt dich für geläutert, doch scheinbar habe ich mich geirrt. Wie es aussieht, trägst du noch immer die bösen Geister in dir.«
Ein kalter Schrecken sackte in Injas Bauch. Wenn Eltrud über böse Geister redete, konnte das nur eines bedeuten: Sie wollte sie einer erneuten Reinigung unterziehen. Alles, bloß das nicht. »Nein, ehrwürdige Erhabene. Ich trage gewiss keine Geister mehr in mir«, versicherte Inja schnell. »Ich sorge mich nur um das Wohlergehen einer Freundin.«
»Bist du dir sicher?« Ein leises Lächeln umspielte Eltruds Lippen. Sie genoss Injas Furcht.
»Das bin ich. Ich schwöre es bei allen Göttern.« Injas Stimme klang atemlos. Diese Tortur würde sie kein weiteres Mal ertragen. »Nach der Reinigung wurde ich neugeboren.«
Ein