Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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Gesegneten und die Konventen. Erheb dich!«

      Inja stemmte sich auf alle viere und sah sich um. Die Dunkelheit wurde von Fackeln erhellt, Menschen näherten sich. Der Bewacher griff unter ihre Armbeuge und half ihr, damit sie den Oberkörper aufrichten konnte. »Du hast tapfer gekämpft. Nur Wenige halten die Nacht durch.«

      Inja schluchzte. Jede Bewegung war eine einzige Qual. »Ich kann nicht aufstehen«, wisperte sie.

      »Das musst du auch nicht. Man wird dich zum Wasser tragen.«

      Die Erhabene Eltrud trat auf sie zu, sprach eine Segnung und bedeutete den anderen, sie hochzunehmen. Inja schrie auf, ihre Muskeln waren steif und die Knie fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Schmiedehammer zertrümmert. Während sie die Stufen hinabgetragen wurde, sangen die Konventen ein Lied über ewiges Leid und die Gnade der Erlösung. Wieder wurde Inja unter Wasser getaucht. Sie begrüßte die Wellen, die über ihr zusammenschlugen, die Stille und die kühle Geborgenheit. Fast wünschte sie sich, niemals wieder aufzutauchen, eins zu werden mit dem endlosen Meer, denn die Welt oberhalb der Schwerelosigkeit war grausam und kalt. Sie starrte auf die Wasseroberfläche, betrachtete das rote Leuchten der aufgehenden Sonne, das wie Fragmente aus gebrochenem Licht über ihr erstrahlte. Sie würde nicht zappeln und nach Atem ringen, sie würde einfach davonschweben. Schicksalsergeben schloss sie die Augen.

      Und plötzlich wurde Inja emporgehoben, hinaus an die kalte Luft. Die Morgensonne begrüßte sie mit einer wärmenden Umarmung. Jemand sprach, sie hörte ihren Namen, doch war sie zu schwach, um darauf zu reagieren. Der Himmel über ihr bewegte sich, wurde zu einer Decke aus Stein, die sich schützend über ihr wölbte. Hände kneteten ihre Muskeln, versuchten, die Beine zu strecken. Schmerzen stachen durch ihre Knie. Jemand schrie. Sie schrie. Gnädige Dunkelheit senkte sich auf sie herab.

      Als Inja die Augen aufschlug, erblickte sie die Decke des Gebetshauses und das Fresko von Huam und Geb, den gotländischen Schutzgöttern, das aus vielen kleinen Steinen und Muscheln darauf verewigt war. Sie lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, die Beine gestreckt und sie fror. Natürlich. Im Gebetshaus war es kalt.

      »Beweg dich nicht«, zischte eine Stimme hinter ihr.

      Inja verdrehte die Augen. Griselle.

      »Hier trink das.« Die Gesegnete hob ihren Kopf und hielt ihr einen Becher an die Lippen. Kühles Wasser floss in Injas Mund. Sie trank es gierig.

      »Den Tag wirst du in dieser Haltung verbringen und dich in das Antlitz unserer höchsten Götter vertiefen, die dir nach der ersten Nacht der Reinigung gestatten, ihren Tempel zu betreten. Du darfst nicht sprechen und nicht einschlafen«, mahnte Griselle. »Ein Beschützer wird über dich wachen.« Sie erhob sich und ging. Erst jetzt bemerkte Inja den Beschützer, der im Hintergrund wartete. Es war einer der Männer, die sie in den Konvent begleitet hatten. Benommen fragte sie sich, wie lange sie ohnmächtig gewesen war.

      Der Tempel hatte keine Fenster, wurde nur von Kerzen erhellt, die auf den Altären und entlang der Wände standen. Der kalte Boden fraß sich wie Säure durch das nasse Untergewand und kroch in ihre Knochen. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie verbot sich, auch nur eine zu vergießen.

      Der Tag verging quälend langsam. Der Schmerz in den Beinen wurde abgelöst von Eis. Schlotternd versuchte sie, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Huam und Geb über ihr schimmerten warm und farbenfroh im Kerzenschein, doch ihre Wärme drang nicht bis zu ihr hinab. Zudem hatte sie schrecklichen Hunger. Wieder fragte sie sich, ob sie nicht mit einem Schlafplatz bei den Geißen oder dem Amhorster Sklavenmarkt vorlieb nehmen sollte, anstatt auch nur einen weiteren Augenblick auf dem kalten Boden zu verbringen.

      Als die Kerzen fast heruntergebrannt waren, betraten die Gesegneten und Konventen den Tempel. Inja hatte jedes Zeitgefühl verloren, sie hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob es Tag war oder Nacht. Die Konventen verteilten sich im Raum, knieten nieder und stimmten ein Gebet an. Inja wurde auf die Füße gestellt. Zwei Konventinnen stützten sie, damit sie nicht zu Boden sackte, und geleiteten sie in die Nacht hinaus. Den Weg zum Strand kannte Inja bereits, aber sie wäre auch mit zu den Klippen oder in die Höhlen gegangen. Ihr war alles egal. Als man sie erneut untertauchte, wartete sie eine Weile und fing dann halbherzig an, zu zappeln. Sie würden sie sowieso nicht unter Wasser lassen, also konnte sie es auch hinter sich bringen. Wenn ich noch einmal knien muss, gebe ich auf, dachte Inja, als sie zum Tempel zurückgeschleppt wurde. Die nasse Kleidung klebte an ihrer kalten Haut. Jede Wärme schien aus ihrem Körper gewichen zu sein.

      »Heute Nacht wirst du stehen«, beschied die Erhabene ungerührt.

      Tränen schossen in Injas Augen. Stehen war besser als knien, aber ihre Kräfte waren verbraucht. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Griselle reichte ihr einen Becher Wasser, den sie durstig leerte. Dann war sie wieder allein mit einem Beschützer, der sie scharf im Auge behielt. Immer öfter schwankte sie und musste ihr Gewicht verlagern, um nicht umzufallen. Sie konnte ihre Füße nicht mehr spüren und wunderte sich darüber, dass sie überhaupt stand.

      Die Altäre verschwammen zu einer fließenden Einheit aus Farben und Formen. Die Luft erhitzte sich, als würde sie an einem Feuer sitzen. Inja genoss die unerwartete Wärme und sog tief den Atem ein. Wo kam die Wärme her und was war das für ein seltsamer Geruch? Nach Räucherwerk und Leder. Das schemenhafte Antlitz einer alten Frau flimmerte vor ihren Augen. War das ein Traum? Eine Vision? Inja blinzelte. Aus dem Gesicht der Frau wurde ein Mann mit bronzefarbener Haut. Ein furchterregender Krieger. Wie eine Fleisch gewordene Gottheit stand er vor ihr und starrte sie an. Sein dunkler Blick ließ sie erschauern. Sie schüttelte den Kopf und die Vision verschwand.

      Und plötzlich war die Kälte wieder da. Ihre Beine zitterten. Gleich würde sie umkippen, das spürte sie.

      »Komm schon Mädchen. Bald hast du es geschafft«, sagte eine Stimme. Hände schoben sich unter ihre Arme und hielten sie aufrecht. »Ich kann dich eine Weile stützen, doch sobald die Sonne aufgeht, musst du alleine stehen.«

      »Danke«, war das Letzte, was Inja hervorbrachte, bevor ihr Kopf gegen die Brust des Beschützers sackte. Er hielt sie und sie war ihm unendlich dankbar dafür. Kurz vor Morgengrauen löste er sich von ihr und warf einen Blick zur Tür. »Sie kommen. Ich kann die Fackeln sehen. Jetzt musst du es alleine schaffen.«

      Inja zuckte hoch und versuchte blinzelnd, die Müdigkeit zu vertreiben und ihren Körper zum Stehen zu bringen. Nur noch eine kleine Weile, dann hatte sie es geschafft. Wenn nicht würde sie einfach aufgeben.

      Die Gesegneten näherten sich, gefolgt von den Konventen. Schweigend verteilten sie sich im Tempel. Inja stand schwankend in ihrer Mitte und sehnte das Ende dieser Qualen herbei. Es gab keine Stelle an ihr, die nicht schmerzte.

      Als zwei Beschützer auf sie zu traten, sackte sie zusammen. Die Männer fingen sie auf, schleiften sie zum Strand und tauchten sie unter Wasser. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Inja sie an. Sie könnte einschlafen und eins werden mit der ewigen See. Die Vorstellung war wundervoll.

      »Sie rührt sich nicht, Erhabene«, hörte sie eine dumpfe Stimme an der Wasseroberfläche sagen.

      »Dann wird sie ertrinken«, entgegnete Eltrud. »Die Götter haben es in der Hand.«

      »Große Mutter. Sie hat länger durchgehalten als jede andere.« War das Griselles Stimme? »Und denkt an den Verlust. Wenn sie stirbt, müssen wir eine Neue kaufen.«

      »Es sind die bösen Geister, die sie stärken und ihr erlauben so unnatürlich lange unter Wasser zu bleiben. Erst wenn sie stirbt, ist sie wahrhaft rein.« Die Stimme der Erhabenen klang unnachgiebig und so kalt wie das Meer.

      Inja lag im Wasser, lauschte den fernen Worten und erkannte die Wahrheit. Es gab keinen Ausweg. Die Erhabene würde sie immer weiter quälen, weil sie Inja hasste. Weil sie fürchtete, dass das, was in Inja schlummerte, eines Tages hervorbrechen und sie zerstören könnte. Vielleicht würde es das. Ihr Leben lang hatte Inja so getan, als wäre sie wie alle anderen, aber das war sie nicht. Etwas verbarg sich in ihr. Eine Macht, die danach verlangte, entdeckt und ausgelebt zu werden. Waren das die bösen Geister, von denen die Menschen sprachen?


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