Geisterkind. Christine Millman
gegen Lippen und Stirn. Stattdessen trat sie auf Inja zu und hob ihr Kinn. »Wie viele Winter zählst du?«
»Vierzehn«, antwortete Inja.
Griselle kniff die Augen zusammen und fixierte sie. »Trägst du einen bösen Geist in dir?«
»Nein.« Angespannt ballte Inja die Hände zu Fäusten. Hätte sie die Frage bejahen sollen? Wenn es nach den Dorfbewohnern ging, trug sie nicht bloß einen Geist in sich, sondern eine ganze Schar. Nein, in Krickdorf konnte sie nicht bleiben. Welches Schicksal auch immer auf sie wartete, sie musste es annahmen.
»Nun gut. Wir werden sehen.« Griselle ließ sie los und wandte sich den Bewaffneten zu. »Gebt ihnen das Geld. Wir müssen uns sputen.«
Der Oheim feixte, als er den Geldbeutel entgegen nahm und Inja fragte sich, ob nicht ein Teil der Münzen in seine Taschen wandern würde, anstatt in die Börse ihrer Mutter.
Ban versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »Leb wohl.«
Griselle beäugte ihn scharf. »Ich wünsche kein dramatisches Lebewohl. Das Mädchen soll sich von ihren Verwandten verabschieden und in den Wagen steigen.«
Inja ergriff Bans Hand und versuchte, seine tröstliche Nähe und Wärme in sich aufzusaugen. Für eine sehr lange Zeit würde diese letzte Berührung das Einzige sein, was ihr von ihm blieb, denn persönliche Dinge, egal welcher Art, waren im Konvent nicht gestattet. Sie wollte nicht gehen, alles in ihr wehrte sich dagegen, doch sie hatte keine andere Wahl. Griselle räusperte sich.
Widerwillig löste sich Inja von Ban und kletterte in den Wagen. Sie hatte das Gefühl, jemand würde ihr das Herz aus der Brust reißen. Hinter ihr stieg ein Bewaffneter ein. Der andere nahm auf dem Kutschbock platz. Schon klatschten die Zügel auf den Rücken der Zuggäule und das Gefährt setzte sich schwankend in Bewegung. Durch den Einstieg beobachtete Inja, wie Ban langsam kleiner wurde. Er stand mit hängenden Armen da und starrte dem Wagen nach.
Inja hielt seinen Blick, auch als sein Gesicht nur noch eine verschwommene Scheibe war, bis das Gefährt die Wegbiegung nach Murg nahm und seine Gestalt endgültig aus ihrem Blickfeld verschwand.
Am Abend stoppten sie neben einem kleinen Wald, wo ein dürres Mädchen am Wegrand wartete. Ihre Kleidung war fadenscheinig und an vielen Stellen geflickt, die dunkelblonden Haare verfilzt und schmutzig. Schuhe trug sie keine und die dreckigen und blutverkrusteten Füße deuteten darauf hin, dass sie auch keine besaß. Das Mädchen hatte kein Bündel auf dem Rücken und stand ganz alleine, niemand hatte es begleitet, um sich zu verabschieden. Sie verneigte sich zitternd vor Griselle und kletterte rasch in den Wagen. Der durchdringende Geruch nach Schmutz, ungewaschener Kleidung und Holzfeuer haftete ihr an und Inja musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Verstohlen betrachtete sie das Mädchen, das sich zu ihrer Erleichterung direkt neben den Einstieg setzte. Sie war etwa in ihrem Alter, vielleicht auch ein wenig jünger.
»Sei gegrüßt«, sagte Inja, in der Hoffnung, auf ein paar Worte, die ihr zeigen würden, ob sie eine Verbündete vor sich hatte, doch das Mädchen warf ihr nur einen kurzen, misstrauischen Blick zu und starrte dann wieder auf den Boden. Schweigend fuhren sie weiter. In Sichtweite eines einsamen Gehöfts hielten sie erneut inne. Griselle reichte ihnen Brot und Käse und befahl dem Mädchen, sich in dem nahe gelegenen Teich zu waschen. Inja zog derweil eine Decke aus ihrem Bündel, wickelte sich darin ein und versuchte, in die tröstenden Arme des Schlafes zu sinken. Der Bewaffnete hatte das Mädchen zum Teich begleitet und so war sie allein, was sie ausgesprochen angenehm fand. Als das Mädchen kurz darauf zurückkehrte, trug sie statt ihrer schmutzigen Kleidung dasselbe Kleid aus ungefärbter Sommerwolle wie Griselle. Die Konvententracht, vermutete Inja.
Zögerlich legte sich das Mädchen neben sie und wandte ihr den Rücken zu. Inja warf einen Blick über die Schulter und betrachtete sie. Die Knie bis zum Bauch hochgezogen zitterte sie vor sich hin. Kein Wunder, die Nacht war kühl und das Mädchen besaß keine Decke.
Seufzend setzte Inja sich auf. »Wollen wir uns meine Decke teilen?«
Zuerst reagierte das Mädchen nicht, doch schließlich wagte sie es, Inja anzusehen. »Bist du ein Geist?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Wie oft hatte sie diese Frage schon gehört? »Nein, bin ich nicht.«
Das Mädchen war noch nicht überzeugt. »Warum bist du dann so blass?«
»Ich bin so geboren«, wehmütig dachte Inja daran, was ihre Großmutter auf derartige Fragen antwortete. »Wie der Winter die Welt in schneeweiße Helligkeit hüllt, so hüllte er mich in sein weißes Gewand.«
Das Mädchen setzte sich auf und rückte zaghaft ein wenig näher. »Wie ist dein Name?« Scheinbar hatten Großmutters blumige Worte ihre Vorbehalte zerstreut.
»Inja und deiner?«
»Mein Name ist Lykke.«
Inja hob die Decke an und nickte Lykke aufmunternd zu. »Komm. Die Nacht ist kalt, wir sollten uns gegenseitig wärmen.«
Lykke rutschte näher. Sie roch nach Wald und feuchter Wolle. »Wie viele Winter zählst du?«, fragte Inja, während sie die Decke um Lykkes Hüfte schlang.
Unsicher verknotete Lykke ihre Finger ineinander und senkte den Blick. Die Frage schien ihr unangenehm. »Ich bin mir nicht sicher. Dreizehn Winter hat die ehrwürdige Griselle geschätzt.«
»Dann sind wir ja fast gleich alt«, sagte Inja betont fröhlich. Wo war dieses Mädchen bloß aufgewachsen, wenn sie nicht einmal wusste, wann sie geboren war? Eines Tages würde sie Lykke danach fragen, doch jetzt war sie einfach nur müde. Gähnend rutschte Inja zu Boden und schloss die Augen. Der Gedanke, dass sie zumindest nicht alleine in Rutten ankommen würde, spendete ihr ein wenig Trost.
Um die Mittagszeit des folgenden Tages passierten sie einen Weiler, wo Griselle eine Spindel, mehrere Körbe mit Seife und einen stattlichen Hahn, der wild in seinem Käfig herumflatterte, abholte. Inja fragte sich, wofür die Gesegneten so viel Seife benötigten, als Griselle ihnen auch schon die Antwort lieferte.
»Im Haus der Götter dulden wir weder Schmutz noch Unreinheit«, erklärte sie, während die Bewaffneten die Körbe in den Wagen hievten. »Körper und Seele sind zweimal täglich zu reinigen. Eine verderbte Seele fühlt sich wohl in einem schmutzigen Leib und er zieht das Böse an.«
Auf der Fahrt setzte Inja sich mit Lykke an den Einstieg und betrachtete die Landschaft. Dunkle Tannenwälder wechselten sich ab mit Viehweiden und Feldern, die sich endlos in die Ferne zogen. Sie passierten Dörfer und Siedlungen, grüne Hügel und blühende Wiesen. Noch nie war Inja so weit von Zuhause weg gewesen, entsprechend neugierig sog sie jede Einzelheit in sich auf. Am Abend des vierten Tages erreichten sie Murg, die zweitgrößte Stadt in Gotland. Im Gegensatz zu anderen Städten war sie nicht von einer hohen Mauer umfriedet, stattdessen sorgten mehrere Wachtürme für die Sicherheit der Bürger.
Aufgeregt betrachtete Inja die hohen Türme und die mehrstöckigen Häuser. Sie wusste gar nicht, dass so viele Menschen übereinander leben konnten. In Krickdorf hatte ein Haus höchstens zwei Stockwerke. Angesichts der vielen unbekannten Dinge konnte sie es kaum erwarten, in die Stadt zu gelangen und die Vielfalt zu bewundern, doch Giselle machte ihre Vorfreude zunichte.
»Wir verbringen die Nacht außerhalb dieses Sündenpfuhls«, verkündete sie. »Im Morgengrauen nehmen wir unseren letzten Konventen auf und reisen weiter nach Rutten.«
Als sie die enttäuschten Gesichter der beiden Mädchen sah, reckte sie ihr spitzes Kinn in die Luft und stemmte die dürren Arme in die Hüfte. »Gewöhnt euch besser daran. Ihr werdet keine Unwürdigen mehr zu Gesicht bekommen. Dieser Leib, in dem eure Seele wohnt, gehört jetzt den Göttern. Sobald ihr den Konvent betretet, seid ihr nicht mehr Teil dieser Welt.«
Eisige Kälte kroch in Injas Bauch. Sie wusste, dass der Konvent ein Exil war, doch Griselles Worte klangen erschreckend endgültig. Würde es Ban jemals gelingen, sie zu befreien? Fast hatte er