Geisterkind. Christine Millman
lachte gehässig auf. »Glaubst du, es ändert etwas, wenn ich zuhause bleibe? Die Leute verachten mich, ob ich sittsam bin oder nicht. Und seit wann darf ein Mann, den ich kaum kenne, über mich bestimmen? Meine Zukunft ist ungewiss, genau wie die meiner Geschwister, nur müssen die nicht befürchten, fortgejagt zu werden.«
Beruhigend strich Ban über ihren Rücken. Der hilflose Ausdruck in seinem Gesicht berührte ihr Herz. »Das wird sicher nicht passieren. Du hast niemandem etwas zuleide getan.«
Inja schnaubte. »In den Augen der Dörfler schon. Du hast sie gehört. Sie glauben, ich hätte das Unglück über meine Familie gebracht.« Sie hob einen Klumpen nasse Erde auf und ließ ihn durch die Finger rieseln, den kalten Regen ignorierend, der auf sie niederprasselte. »Eigentlich wäre Aberlin jetzt das Familienoberhaupt. Er ist alt genug, doch er drückt sich vor der Verantwortung. Ich verstehe nicht, warum er uns verlässt.«
»Ich auch nicht«, gab Ban zu. Mehr fiel ihm nicht ein. Die Lage war ausweglos, da gab es nichts schönzureden.
»Komm, lass uns gehen«, bat er schließlich. »Der Regen wird immer stärker.«
Achtlos wischte Inja die klebrige Erde an ihrem Rock ab und erhob sich. Von ihren Zöpfen tropfte das Wasser und ihre Kleider hingen an ihr wie ein nasser Sack.
»Sieh uns an«, sagte Ban und versuchte sich an einem Lächeln. »Wir sehen aus wie nasse Katzen.«
Inja zuckte nur mit den Schultern. Zum Lachen fehlte ihr die Kraft.
Auf dem Weg machten sie vor der Schankstube Halt, damit Inja trockene Kleider holen konnte. Sie war fest entschlossen, die Nacht in Bans Hütte zu verbringen. Alles war besser als dieses freudlose Haus. Sie bat Ban darum, unter dem Vordach zu warten, straffte sich und betrat zum ersten Mal seit dem Unglück die Schankstube. Der Oheim saß mit Bauer Hugolf, dem alten Alus, dem Büttel und einem Krug Schwarzbier am Tisch und diskutierte. Sein Bart und die Augenbrauen waren so dicht und buschig, dass kaum etwas von seinem Gesicht zu erkennen war. Sein Haar leuchtete in demselben rötlichen blond wie das Haar von Injas Geschwistern und auch die blauen Augen glichen denen der anderen. Die Familienähnlichkeit war unbestreitbar.
»Gut, dass du da bist, Inja«, begrüßte der Oheim sie. »Wir sprachen gerade über dich.«
Seine aufgesetzte Freundlichkeit konnte Inja nicht täuschen. Die Männer saßen beisammen, tranken das Bier ihres Vaters und verhandelten über ihrer aller Zukunft, als wären sie Vieh, dass es an irgendwen zu verhökern galt.
»Wie geht es meiner Mutter?«, fragte Inja kühl.
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Oheims. »Unverändert. Ich hatte gehofft, dass die Beisetzung sie wachrütteln würde, doch das ist leider nicht passiert.«
Inja ließ ihren Blick durch die Schankstube wandern. Nur ein dunkler Fleck am Boden und ein fehlender Tisch erinnerten an den Schrecken, der sie drei Nächte zuvor ereilt hatte. »Wo sind Veit, Benlin und Irmeli?«
»Mach dir keine Sorgen. Deinen Geschwistern geht es gut. Irmeli schläft, Lore ist oben und legt Veit einen frischen Verband an und Benlin passt mit Aberlin auf den Meiler des Köhlers auf.« Der Oheim deutete auf einen freien Platz neben sich. »Komm Mädchen, setz dich. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen muss.«
Inja beäugte ihn misstrauisch. Der kalte Glanz in seinen Augen strafte die väterliche Freundlichkeit Lügen. »Ich möchte lieber stehen. Was willst du mir sagen?«
Der Oheim runzelte die Stirn. Inja wusste, was er dachte, sie konnte es an seiner unwilligen Miene erkennen und dem Zorn, der in seinen Augen aufflammte. Für ihn war sie ein widerspenstiges Kind, das ihm mit ihrem seltsamen Äußeren Schauer über den Rücken jagte. Fee aus dem Schattenland hatte er sie bei seinen Besuchen immer genannt. Geisterkind, hinter vorgehaltener Hand, wenn er glaubte, sie würde es nicht hören. Nie hatte er sie auf den Schoß genommen, wie er es mit ihren Geschwistern getan hatte oder ihr den Kopf getätschelt. Nur zu gerne würde er sie für das Unglück bestrafen, das ihrer Familie widerfahren war, das wusste sie, und seine falsche Freundlichkeit bestätigte ihre Befürchtungen. Er wollte sie in Sicherheit wiegen, damit der Schlag sie hinterher umso härter traf.
»Wir haben uns darüber beraten, was aus dir und deinen Geschwistern werden soll«, fing er an.
Nun kam der Augenblick der Wahrheit. Angespannt ballte Inja die Fäuste. »Und zu welchem Entschluss seid ihr gekommen?«
Geräuschvoll stieß er den Atem aus. »Veit und Benlin kommen mit mir. Sie können mir auf dem Hof helfen. Wenn Veit einundzwanzig wird, kann er zurückkehren und die Schankstube übernehmen, bis dahin hat sich Hansen als Pächter angeboten. Irmeli bleibt in der Obhut vom Köhler und seiner Familie. Sie werden für sie sorgen, bis es deiner Mutter wieder besser geht. Aberlin wird für die Kosten der Pflege und Unterkunft aufkommen.«
Inja musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Sie hatte es geahnt. Der Oheim würde die Familie auseinanderreißen. Nach allem, was sie durchgestanden hatten. Und Aberlin bezahlte für Irmeli und seine Mutter.
»Was habt ihr für mich geplant?« Ihre Stimme klang wie ein zugefrorener See, frostig und überraschend klar.
Der Oheim räusperte sich und begann, nervös über seinen Bart zu streichen. »Du wirst zur Halbinsel Rutten gebracht, wo du dem Konvent der Gesegneten beitreten und dein Leben in den Dienst der Götter stellen wirst.«
Injas Knie wurden weich. In den Ruttener Konvent geschickt zu werden, war wie in lebenslange Knechtschaft zu geraten. Nur sehr wenige stellten sich in den Dienst der Götter und niemand ging freiwillig nach Rutten. Eltern verkauften ihre Söhne und Töchter an den Konvent, wenn sie nicht genug Geld hatten, um sie durch den Winter zu bringen oder wenn sie sich einer unliebsamen Tochter entledigen wollten. Einer wie Inja. Doch wie hatte der Oheim das so schnell bewerkstelligt? Immerhin lag Rutten viele Tagesreisen entfernt.
«Nein«, stieß Inja hervor. »Das kannst du mir nicht antun.«
»Ich kann und ich werde«, entgegnete der Oheim ungerührt. »Die Leute meinen, du solltest Buße tun und die Gelegenheit bekommen, die bösen Geister, die sich in der Nacht deiner Geburt in dir eingenistet haben, zu vertreiben.«
»Aber …«, hilfesuchend blickte Inja in die Gesichter der Männer, die über sie gerichtet hatten. Wie mitleidlos sie Inja betrachteten. »Aber ich bin unschuldig. Das waren keine bösen Geister, es waren die Söldner. Genauso gut könntet ihr den König bezichtigen, schließlich sind es seine Männer gewesen, die gemordet und sich an den Frauen vergangen haben.«
Der Oheim schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Versündige dich nicht, Mädchen! König Ulrik ist unfehlbar.«
Inja zuckte zusammen, zwang sich aber, stehenzubleiben. Verzweifelt wandte sie sich an Köhler Heribert, der in der Männerrunde der Freundlichste war. »Ich bin fleißig und stark. Ich kann bei Euch arbeiten. Oder bei Olge auf den Feldern. Woher wollt ihr wissen, dass mich der Konvent überhaupt haben will? Niemand hat mit den Gesegneten verhandelt.«
»Das war eine Fügung der Götter«, mischte sich der Büttel ein. »Die kleine Meite, die nach dem langen Winter aus Not an den Konvent verkauft wurde, ist schwanger. Wie allgemein bekannt sein dürfte, nimmt der Konvent nur jungfräuliche Maiden bei sich auf. Dein Oheim schlug vor, dass du Meites Platz einnimmst und statt ihrer nach Rutten gehst, und wir alle hielten das für eine gute Idee.«
Entgeistert starrte Inja ihn an. Gewiss war die dreizehnjährige Meite nicht aus Versehen schwanger geworden. Sie wollte bloß nicht nach Rutten. Niemand wollte das.
»Das könnt ihr nicht tun«, begehrte sie auf. »Das ist unrecht. Ich tauge nicht zum Dienst an den Göttern und ich will auch keine Buße tun. Ich habe nichts falsch gemacht.«
Der Büttel winkte ab. »Papperlapapp. Die Entscheidung ist gefallen. Wenn du gehorsam und arbeitswillig bist und dich reumütig zeigst, hast du nichts zu befürchten.«
Instinktiv wich Inja bis zur Tür zurück. Das Blut rauschte in ihren Ohren. »Bitte«,