Geisterkind. Christine Millman

Geisterkind - Christine Millman


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zu zeigen.«

      Sie nahm einen weiteren Schluck und starrte gedankenverloren in die Tasse. Ein kleines Lächeln kräuselte ihre Lippen. Das Lächeln des jungen Mädchens, das sie einst gewesen war. »Wir redeten, bis der Morgen graute. Ich erzählte ihm von meinen Hoffnungen und Träumen und als mich meine Mutter zum Morgenmahl rief, hatte ich keinen Augenblick lang geschlafen. Beim Essen verkündete er überraschend, dass er noch eine Nacht oder zwei zu bleiben wünsche, wogegen weder ich noch mein Vater etwas einzuwenden hatten, schließlich bezahlte er gut für die Bleibe. Am Ende blieb er sieben Nächte, und als er am Morgen des achten Tages abreiste, war ich keine Jungfrau mehr. In tiefer Liebe entbrannt, folgte ich ihm in seine Heimat, ohne mich von meinen Eltern zu verabschieden. Denn ich wusste, sie hätten es mir nie erlaubt, diesen Mann zu lieben.«

      Wieder trank sie und bedeutete Ban, es ihr gleichzutun. Sprachlos starrte Ban seine Mutter an. Dass sie den Mut und die Kühnheit besessen hatte, mit einem Fremden durchzubrennen, erschien ihm unglaublich. »Warum bist du so sicher, dass deine Eltern es nicht erlaubt hätten? War er denn kein Gotländer?«

      Sie lachte verächtlich. »Nein, mein Sohn. Seine Heimat war Arnýekké, das Schattenland.«

      Ban schnappte nach Luft. »Du bist ihm ins Schattenland gefolgt? Du musst verrückt gewesen sein.«

      »Ja. Ich war verrückt vor Liebe. Das Schattenland ist ein gefährlicher Ort Ban, doch längst nicht so gefährlich, wie es dir die Gotländer Glauben machen wollen. Am gefährlichsten war die Tatsache, dass sich dein Vater als dunkler Magier herausstellte, der auch vor Menschenopfern und der Schaffung von Wiedergängern nicht zurückschreckte, um seine Heimat vor Feinden zu beschützen. Obwohl ich ihn liebte und dich unter meinem Herzen trug, verließ ich ihn, als ich es erfuhr. Ich packte meine Sachen und verschwand klammheimlich, ohne mich von ihm zu verabschieden.«

      Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie Tasse umklammert und sie wirkte um Jahre gealtert. Offensichtlich schmerzte es sie, diesen Teil der Geschichte zu erzählen. »Als ich auf das Gehöft meiner Eltern zurückkehrte, musste ich feststellen, dass es abgebrannt und meine Eltern in den Flammen umgekommen waren. War dies das Werk meines Geliebten? Hatte er meine Eltern auf dem Gewissen? Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Passiert war passiert. Da ich schwanger war, hatte ich keine Wahl, als zu deinem Vater zurückzukehren, denn das war es, was er wollte. Glaubte ich zumindest. Ich dachte, er würde mir verzeihen. Doch die Grenzen des Schattenlandes sind unüberwindbar und blieben es auch für mich. In meiner Verzweiflung kehrte ich nach Krickdorf zurück und hoffte, dass er mich eines Tages holen würde, denn mittlerweile hatte ich erkannt, dass es ein großer Fehler gewesen war, ihn zu verlassen.« Sie hielt kurz inne und schloss die Augen. Der Schmerz grub tiefe Spuren in ihr Gesicht. »Doch er kam nicht.« Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern.

      Ban wusste nicht, was er sagen sollte. Nie zuvor hatte er seine Mutter bekümmert erlebt. Sie wirkte wie ein gebrochener Zweig. Zaghaft nahm er ihre Hand. Sie starrte in die Flammen und fuhr mit leiser Stimme fort.

      »Bis heute warte ich auf seine Rückkehr und verachte ihn zugleich dafür, weil er nicht um mich gekämpft hat. Und um seinen Sohn. Scheinbar war seine Liebe nicht halb so tief wie er mich hat Glauben lassen.«

      Sie schwieg einen Moment und schlürfte den Kräutersud, während sie um Fassung rang. Dann sah sie Ban an. »Jetzt weißt du, wer dein Vater ist. Tu mit diesem Wissen, was du für richtig hältst.«

      Ban schluckte trocken. »Wie lautet sein Name?«

      Seine Mutter straffte sich, als könnte sie den Namen nur aussprechen, wenn sie Stärke zeigte. »Sein Name ist Skandor Askoll Nocturo.«

      Skandor Askoll Nocturo. Ein seltsamer Name für einen seltsamen Mann. Sein Vater. Ein Magier aus dem Schattenland. Alles hatte Ban in Erwägung gezogen, sogar dass er das Ergebnis einer Schändung sein könnte, aber das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. »Und du glaubst, dass Inja so ist wie er?«

      Lore nickte. »Sie trägt eine Macht in sich, die auf die Menschen wirkt. Die einfältigen Bauern spüren es und haben Angst vor ihr. Auf dich wiederum wirkt es anziehend. Nur glaube ich nicht, dass du stark genug für sie bist.«

      Ban runzelte die Stirn. Was redete seine Mutter da? »Warum sagst du so etwas?«

      Lore stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie braucht Schutz und Führung, Ban. In Gotland ist sie bestenfalls ein Nichts, schlimmstenfalls wird sie gebrandmarkt oder gar hingerichtet, ohne zu verstehen, warum. Ihre einzige Zuflucht wäre das Schattenland. Doch dort ist es gefährlich und wild und ich bin mir nicht sicher, ob du dich behaupten könntest. Zudem wird das Land von allen Seiten bedroht. Sehr bald schon wird König Ulrik gegen Arnýekké in den Krieg ziehen und es ist ungewiss, ob die Künste der Magier ausreichen werden, um es zu schützen, denn das Schattenland verfügt über vieles, jedoch keine Soldaten.«

      »Warum sollte ich mich nicht behaupten können? In mir fließt das Blut meines Vaters, somit gehöre ich nicht weniger ins Schattenland als nach Krickdorf«, sagte Ban. »Und wer weiß, vielleicht trage ich ebenfalls unerkannte magische Fähigkeiten in mir.«

      Lore lächelte ihn mitleidig an und tätschelte seine Wange. »Du bist ein guter Junge und wirst eines Tages ein ehrenwerter und starker Mann sein, aber ein Magier bist du nicht.«

      In dieser Nacht war Ban froh um die Einsamkeit am Meiler, die es ihm gestattete, über das nachzudenken, was er von seiner Mutter erfahren hatte. Endlich verstand er, warum sie ihm die Herkunft seines Vaters verschwiegen hatte. Die Bewohner des Schattenlandes wurden mit Argwohn betrachtet, nicht selten landeten die Magier auf dem Blutgerüst, wenn sie es wagten, ihr Können zu offenbaren. Manchmal genügte ein Gerücht, wie bei dem Eheweib des alten Alus. Resia lebte in einem Dorf an der Grenze zum Schattenland, und als Alus sie nach Krickdorf brachte, mieden die Menschen sie wie eine Aussätzige. Erst nachdem sie ihm drei gesunde Kinder geboren und immer fleißig den Göttern geopfert hatte, verloren die Dörfler langsam ihre Vorbehalte. Eines Tages jedoch starb ihr ältester Sohn an einem rätselhaften Fieber, das anschließend noch weitere Kinder in Krickdorf befiel. Daraufhin erinnerten sich die Menschen wieder an ihre Herkunft und begannen zu tuscheln und zu spekulieren. Gerüchte machten die Runde, Resia übe sich in dunkler Magie und würde die Geister beschwören, selbst der alte Alus, gramgebeugt durch den Tod seines Sohnes, betrachtete seine Frau fortan mit Misstrauen. Eines Morgens stürmte eine Horde Männer, angeführt von Bauer Hugolf, in die Hütte, zerrte Resia zum Dorfplatz, brandmarkte sie und jagte sie dann zum Dorf hinaus. Ban erinnerte sich noch gut daran: Resias verzweifeltes Schluchzen, das zerrissene Gewand und die verbrannte Haut auf ihrer Schulter, blutig und rot mit verkohlten Rändern um das Schandmal herum. Inja, die schreckenstarr hinter einem Baum gekauert und das Geschehen beobacht hatte. Tagelang hatte sie die Dorfbewohner gemieden und sich immer wieder ängstlich umgeblickt, wenn sie durch die Gassen huschte. Damals hatte er ihr Verhalten nicht verstanden, doch nun wusste er, wie sehr Inja unter ihrer Andersartigkeit gelitten haben musste. Resias Schicksal hatte ihr gezeigt, was mit ihr geschehen konnte, sollte je ein Unglück über das Dorf hereinbrechen.

      Dass sie tatsächlich anders war, hatte er nie erkannt oder nicht erkennen wollen. Ihr seltsames Sehnen nach dem Wasser, ihre Fähigkeit lange und tief zu tauchen und die Fische anzulocken. Ihre Vorahnungen und die Dinge, die nur sie sehen konnte und die er bisher für Ausgeburten ihrer Fantasie gehalten hatte. Das alles hatte er verdrängt.

      Sie war ein Geisterkind.

      Konnte er dieses Wissen nicht nutzen, um Inja zu helfen? Er könnte seinen Vater suchen und ihn um Rat und Hilfe bitten. Doch das Schattenland war gefährlich und seine Grenzen zu überschreiten so gut wie unmöglich, hatte seine Mutter gesagt. Er stieß einen Fluch aus, der ungehört in der nächtlichen Stille entschwand. Es musste doch eine Möglichkeit geben, nach Arnýekké zu gelangen. Bestimmt gab es einen Weg, auch für einen Gotländer. Er musste ihn nur finden.

      6

      Rutten

      Die Tage im Konvent begannen vor Morgengrauen. Inja wurde der Gartenarbeit zugeteilt, eine der vielen


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