Die lange Nacht. Ernst Israel Bornstein

Die lange Nacht - Ernst Israel Bornstein


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Judenrat in unserer Stadt vorstand. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang 1940 der damalige Oberbürgermeister unserer Stadt, Dr. Frick, die Ablieferung der Kontributionsgelder unter Androhung der Todesstrafe verlangt hatte. (Dr. Frick lebt in München und ist jetzt als Oberregierungsrat tätig.) Alle einflussreichen Bürger waren vom Judenrat aufgefordert worden, bei der Eintreibung des Geldes behilflich zu sein. Auch mein Vater wurde zu dieser Aktion herangezogen, erzählte aber zu Hause, seine und Windmanns Anschauungen gingen in mancher Hinsicht auseinander. Sie waren zwar ursprünglich Freunde und jahrelang an der Spitze einer Partei tätig gewesen. Jetzt aber war Windmann seine Stellung als Chef des Judenrats zu Kopf gestiegen. So kühlte sich die freundschaftliche Beziehung im Jahre 1940 immer mehr ab. Nun aber war meine Mutter gezwungen, bei diesem Mann Protektion zu suchen, in dessen Macht es stand, den Weg meines Vaters vom »Dulag« nach Hause vor weiteren Schwierigkeiten zu bewahren.

      Nach einigen Tagen erschien der SS-Arzt zu seiner Routine-Visite in unserem Lager. Der Sanitäter hatte sein Wort gehalten und meinen Vater auf die Krankenliste gesetzt. Bis dahin ging alles gut, denn der SS-Arzt stellte meinen Vater mit noch einigen anderen als arbeitsunfähig zurück. Als ich abends von der Arbeit ins Lager zurückkam, flüsterte mir der Sanitäter die gute Nachricht schon auf dem Appellplatz zu. Schnell schrieb ich meiner Mutter, dass unsere Bemühungen Erfolg gehabt hatten und mein Vater in einigen Tagen zurückgeschickt würde. Sie solle sich jetzt dafür einsetzen, dass im Dulag in Sosnowitz alles weitere funktioniere. Mit neuem Mut nahm ich mein Lagerleben wieder auf. War ich bis zu meiner Verschleppung noch ein Schüler gewesen, der streng nach den Weisungen der Eltern gehandelt hatte, so änderte sich nun meine Verhaltensweise von Grund auf, da ich ständig zu selbstständigem Handeln gezwungen war. Nun sollte es also wahr werden, dass mein Vater heimkehrte! Doch nicht das allein stimmte uns beide froh. Auch in anderer Hinsicht war eine Besserung eingetreten. In den letzten Wochen hatte ich wieder zugenommen und mein Aussehen hatte sich gebessert, körperlich war ich also etwa im gleichen Zustand wie vor der Einlieferung ins Lager. Das allein genügte, meinen Vater mit Freude und Hoffnung auf die Zukunft zu erfüllen.

      Am Samstagmittag, als wir von der Arbeit zurückkehrten und auf dem Appellplatz abgezählt wurden, rief man die Kranken, die zum Abtransport in die Heimat bestimmt waren. Sie mussten binnen einer Stunde ihr Bündel geschnürt haben. Ich ging zu meinem Vater in die Stube und half ihm, die Reste seiner Habseligkeiten zusammenzupacken; viel war es ohnehin nicht. Die Wäsche gab er teils mir, teils anderen, und im Nu war der Spind »liquidiert«. Es war für uns beide, die wir uns in einer Stunde trennen sollten, in der Stube zu eng geworden. Wir gingen hinter die Baracken und schritten eine Weile schweigend nebeneinander auf und ab. Ich versuchte, die drückende Stimmung zu verscheuchen und die unerträgliche Stille zu unterbrechen. So sagte ich meinem Vater, dass auch ich versuchen würde, mit Hilfe des Sanitäters nach Hause zu kommen. Gelänge dies, dann wollten wir alle zusammen noch eine letzte Chance zur Flucht oder Auswanderung wahrnehmen. Doch mein Vater antwortete nur kurz: »Das haben wir versäumt; wir haben die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt. Jetzt ist es sehr schwierig, noch wegzukommen. Nur große Geschehnisse könnten unser Schicksal ändern.« Dann verfielen wir wieder in Schweigen. Es ertönte der Pfiff des Judenältesten und der Befehl: »Antreten zum Bahnhof! Die drei Paare, die jetzt wegmarschieren sollen, müssen sich beim Tor aufstellen, wo sie unter dem Geleit des SA-Wachmanns nach Sosnowitz gebracht werden.« Nun blieben uns nur noch wenige Minuten bis zum endgültigen Abschied. Die Tränen saßen mir im Hals, doch versuchte ich, ein beherrschtes Gesicht zu zeigen und heiter zu wirken. Ich sagte noch: »Die Mama braucht sich nicht zu sorgen wegen mir. Es geht mir gut und ich kann sogar noch anderen durch meine Verbindungen helfen.« Mein Vater umarmte mich. Zärtlich strich er mir über das Haar und sagte: »Wer weiß, wann wir uns wiedersehen. Du wirst ja vielleicht noch vieles erleben und durchmachen. Vergiss nicht, wer du bist! Bleibe stark und voll Hoffnung!« Als der SA-Mann sich jetzt von der anderen Seite dem Lagertor näherte, sagte mein Vater noch: »Versprich mir eines noch« … und dabei erstickten ihm die Worte in der Kehle: »Bleibe ein guter Jude.« Nun hielt auch seine Beherrschung nicht länger stand, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte nur zustimmend mit dem Kopfe nicken, denn ich weinte leise und schluckte ständig an meinen Tränen.

      Das Lagertor öffnete sich, und mein Vater ging mit den anderen Kameraden hinaus. Ich blieb hinter dem Drahtzaun stehen. Flüchtig wischte ich mir die Tränenspuren ab, denn ich wollte zuletzt ein heiteres Gesicht zeigen. Eng an den Drahtzaun gedrückt, winkte ich meinem Vater nach, der sich mit jedem Schritt weiter von mir entfernte. Noch versuchte ich meine Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten, doch es gelang mir nicht mehr, sah ich doch, wie sich mein Vater nur unter Schmerzen vorwärtsbewegte. Als letztes Bild blieben die undeutlichen Umrisse einer traurig sich fortschleppenden Gruppe in meinem Gedächtnis haften, der ein SA-Mann mit geschultertem Gewehr folgte. Je weiter mein Vater ging, desto heftiger weinte ich. »Wann werden wir uns wiedersehen?«, fragte ich mich. Mein Vater war schon weit von mir entfernt, ich sah nur noch den undeutlichen Umriss seiner Gestalt, über der drohend der Schatten des aufgepflanzten Gewehres hing. So sah ich ihn zum letzten Mal – zum allerletzten Male. Nach einer Woche bekam ich die Nachricht, dass mein Vater zu Hause angekommen war.

      Ich hatte jetzt das Glück, oft als Lokomotivheizer und Mopelführer herangezogen zu werden, um, wenn nötig, einen deutschen Arbeiter voll vertreten zu können. Außerdem wurde ich zu keinen zusätzlichen Lagerarbeiten mehr herangezogen und stieg allmählich in die Reihen der »Lagerprominenz« auf, die sich in der Hauptsache aus dem Lagerpersonal, den Köchen, Schneidern usw. zusammensetzte.

      Die zusätzlichen Lagerarbeiten wurden an den Abenden wie auch an Samstagnachmittagen und Sonntagen ausgeführt. Es handelte sich um gern gemiedene Arbeiten wie etwa Barackenreinigen, Kehren des Lagergeländes, Abfuhr von Schutt und Abfall, Säubern von Waschräumen und Latrinen u. a. m. Das Lagerpersonal bestimmte, wer diese Arbeiten auszuführen hatte. War jemand aber an einem Häftling gelegen, der für ihn Besorgungen erledigte, so blieb dieser von den Arbeiten verschont. Dies war auch bei mir der Fall. Der Lokführer brachte mir täglich die Breslauer Zeitung, die ich dann an die Lagerprominenz weitergeben konnte. Mein Freund Kanatzky dagegen, an den ich mich nach der Heimkehr meines Vaters besonders angeschlossen hatte, musste auf der Kippe bei Meister Kuptschik in der bewachten Kolonne arbeiten; sein Los war nicht beneidenswert. Auch im Lager selbst hatte er keine besonderen Vergünstigungen. Er wusste durch mich, auf welchem Weg mein Vater zurückgeschickt worden war, und bat mich, für ihn die Verbindung mit dem Sanitäter herzustellen, damit auch er auf die Krankenliste gesetzt würde. Natürlich hätte ich lieber versucht, mich selbst auf die Liste zu bringen, um endlich nach Hause zu kommen.

      Aber mein Freund meinte, es sei unklug, würde ich denselben Weg wie mein Vater benutzen. Er glaubte auch, dass es mir im Vergleich zu ihm nicht allzu schlecht ginge und dass ich meine Rückkehr ruhig noch einige Zeit verschieben könnte. Und da musste ich ihm recht geben.

      Ich nahm wie schon einmal die Verbindung mit dem Sanitäter und dem Judenältesten auf, und alles klappte. Nach einigen Wochen durfte mein Freund als Kranker wieder nach Hause zurückkehren. Ich begleitete ihn zu dem mit Stacheldraht umzogenen Lagerzaun. Wir umarmten uns ein letztes Mal und wünschten uns ein baldiges Wiedersehen. Doch alles kam anders. Er trat der jüdischen Gettopolizei bei und wurde damit Mitarbeiter des Judenrats. In den ersten Wochen schickte er mir einige Päckchen ins Lager. Aber bald hörte ich nichts mehr von ihm. Rückschauend glaube ich, ihm damit, dass ich ihm den Weg nach Hause ebnete, keinen guten Dienst erwiesen zu haben. Wäre er im Lager geblieben, hätte er zumindest eine kleine Chance gehabt, unter den Überlebenden zu sein. Wie ich später erfuhr, bemühte er sich eifrig, die Aufträge der jüdischen Polizei zu erfüllen, und musste dabei oft anderen Unrecht zufügen. Im Zuge der Aktion »Judenrein« kam auch er in das Vernichtungslager Auschwitz, wo er mit allen anderen vergast wurde.

      Die Pfingstfeiertage kamen heran, die ersten hinter Stacheldraht. Wir standen wie immer zur Arbeit auf, doch unsere Gedanken weilten bei den Familien. Wir wussten zwar, dass unsere Angehörigen daheim Verfolgungen ausgesetzt waren, sie durften aber wenigstens zusammenbleiben und konnten sich frei im eigenen Kreis bewegen. Voller Heimweh erinnerten wir uns, wie sich die Familien an den Feiertagen versammelten, um die Älteren und die Gelehrten zu ehren. Unsere Sehnsucht nach den Eltern wurde so groß, dass wir auch während der Arbeit alle nur über die Familien zu Hause und die vergangenen Feste sprachen. Wir wünschten uns gegenseitig,


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