Die lange Nacht. Ernst Israel Bornstein

Die lange Nacht - Ernst Israel Bornstein


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      Die angsterfüllten Nächte schienen kein Ende zu nehmen. Ich wanderte nachts von einem Versteck zum anderen. Einmal hauste ich auf dem Speicher, dann wieder im Keller, immer in der Hoffnung, meinen Verfolgern zu entkommen. An jenem Dienstagabend also, als viele meiner Freunde wieder in ihr Versteck gelaufen waren, beschloss ich, zu Hause zu bleiben. Vergebens flehte mich meine Mutter an, ich solle mich verbergen. Ein plötzlicher Widerwille gegen dieses nächtliche Versteckspiel schwemmte alle Bedenken weg und zwang mich wider mein besseres Wissen, die Nacht im Hause zu verbringen. Ich beschloss, der wilden Panikstimmung nicht nachzugeben und ging ruhig zu Bett. Um vier Uhr morgens klopfte unsere Nachbarin an die Wohnungstür. Im Nu waren wir hellwach. Es war zwar stockfinster, aber von der Straße her drang wirrer Lärm herauf, und das Knallen schwerer Soldatenstiefel auf dem Steinpflaster ließ augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen wach werden. Mit einem Sprung war ich beim Fenster und schob vorsichtig den Vorhang beiseite. Ich glaubte, in einen gespenstischen Abgrund zu sehen. Die gegenüberliegenden Häuser wurden bereits von SS-Leuten bewacht. In einer Hand hielten sie das aufgepflanzte Gewehr, in der anderen eine Taschenlampe, mit deren Strahl sie die Häuserfront abtasteten. Aus einer Haustür wurden gerade Männer und Frauen mit Kolbenschlägen auf die Straße hinausgestoßen. Bei den Frauen vergewisserte man sich rasch, ob sie nicht verkleidete Männer waren. Dann stieß und schlug man sie in das Haus zurück. Mutter und Geschwister hatten diese Szene vom Fenster aus beobachtet und begannen laut zu weinen. Ihre Klagen und dazu die lähmende Furcht vor dem nun Kommenden ließen mich plötzlich an Händen und Füßen zittern. Mir begannen die Zähne zu klappern, und nur taumelnd konnte ich mich aufrechterhalten. Ich war völlig ratlos, was ich nun mit mir beginnen sollte. Wohin konnte ich jetzt noch laufen, um mich zu verstecken? Alle Überlegung war sinnlos, denn für eine Flucht war es zu spät. Ich umarmte meine Mutter und bemühte mich, ihren Tränenstrom zu stillen. »Ich will schnell weglaufen und versuchen, mich irgendwo zu verstecken«, versprach ich ihr. »Ich glaube, bei den Nachbarn findet sich noch ein Unterschlupf.« So rannte ich schnell in den ersten Stock hinunter zu den Nachbarn. In höchster Eile beschlossen wir, einen großen Schrank vor die Zimmertür zu stellen, hinter der wir uns verbergen wollten. Der Schrank war aber nicht hoch genug, um die Tür ganz zu verdecken. So schob uns die Frau des Nachbarn kurzerhand in den Schrank hinein und deckte uns mit den darin hängenden Kleidern zu. Noch ehe wir uns in unserem Versteck eingerichtet hatten, hörten wir schon das ohrenbetäubende Geschrei von Gestapo und Polizei: »Männer raus! Verfluchte Juden raus!« Die schweren Schritte kamen auf uns zu, und ehe wir uns besinnen konnten, waren die SS-Männer schon in der Wohnung und rissen auch die Schranktür auf. Mit Hurrageschrei durchwühlten sie den Schrank und stießen uns schimpfend heraus, ein Hagel von Schlägen mit dem Gewehrkolben ging auf uns nieder. Von Fußtritten angetrieben, liefen wir zur Treppe, und ein Stoß beförderte uns die ganze Stiege hinunter. Unten stieß man mich zu den schon versammelten Nachbarn. Meine Mutter stand im zweiten Stock und sah mit Tränen in den Augen dieser Szene zu. Ich blickte hinauf zu ihr – gerne hätte ich sie noch ein letztes Mal umarmt und mich von ihr verabschiedet. Aber Schläge und Kolbenhiebe stießen mich immer weiter weg von unserem Heim und trieben mich der großen Schar der Leidensgenossen zu. Auf der Straße stand schon dichtgedrängt eine Menge von Männern, von denen manche blutig geschlagene Köpfe hatten. Augenblicklich wurden wir von Gendarmerie und Polizei umzingelt, die uns von nun an mit aufgepflanztem Gewehr bewachten. Als unsere Schar groß genug war, hieß es: Vorwärts, marsch! Schließlich kamen wir zu einer Fabrik, vor der uns schon eine große Gruppe von Gefangenen erwartete.

      Gendarmerie, Polizei und Gestapo hatten bereits ein Spalier gebildet, mit Gewehrkolben und Knüppeln schlugen sie von rechts und links auf uns ein und trieben uns hindurch. Blutend und stöhnend erreichten wir die Fabrikhalle. Auch der Weg ins Innere der Halle war blutgetränkt, und in allen Ecken lagen Verwundete herum. Älteren Männern wurde der Bart ausgerissen, mit Stiefeln trat man ihnen in die blutigen Gesichter.

      In all diesem Jammer fand ich auch meinen Vater wieder. Schweigend legte er mir die Hand auf die Schulter. Eine gemeinsame Trauer erstickte uns die Worte in der Kehle. Beide mussten wir an das Gleiche denken – an unsere Familie, die ohne Schutz und Hilfe zurückgeblieben war.

      Mein Vater, der sich mit einigen anderen Bekannten in einem Nachbarhaus versteckt hatte, war schließlich auch entdeckt worden. Gestapo und Polizei waren dazu übergegangen, Speicherund Kellerräume mit Spürhunden zu durchsuchen und auszuheben. Einige seiner Freunde waren dabei so zusammengeschlagen worden, dass sie ihren Wunden erlagen; andere waren in ihren Verstecken erschossen worden.

      Die Leute vom Judenrat bestimmten einige Ordnungsmänner, die sie aus der Menge herausholten, und brachten schließlich zwei Ärzte mit, die den Verwundeten flüchtig einen Verband anlegten und sie von den Gesunden absonderten. Mit Hilfe der Ordnungsmänner mussten die Ärzte nun 500 der kräftigsten Männer aus unseren Reihen auswählen. Wir mussten uns ausziehen und hintereinander an dem Arzt, der von der Gestapo flankiert war, vorbeimarschieren. Der Arzt entschied über die Tauglichkeit und stellte die Gruppe der Gesunden zusammen. Plötzlich hieß es: »Ruhe!« Nun erklomm der Gestapoführer Knoll einen Tisch und hielt eine drastische Ansprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. »Eure Zeit ist sowieso vorbei«, sagte er. »Wer sich freiwillig meldet, kommt weg zur Arbeit, wird dort gut behandelt und kann dann nach einiger Zeit wieder zu seiner Familie zurückkehren. Er wird den nichtjüdischen Arbeitern gleichgestellt werden.«

      Entsetzt vom Anblick der Verwundeten und Erschossenen, sagte ich zu meinem Vater, ich wolle mich freiwillig zum Arbeitseinsatz melden; er aber solle sich um seine Freilassung bemühen, um bei der Familie bleiben zu können. Insgesamt meldeten sich 150 junge Männer freiwillig. Als die Meldungen abgeschlossen waren, wurden wir aus der Halle hinausgeführt und in Omnibusse verfrachtet. Nun erst sahen wir die riesige Menge von Frauen und Kindern vor dem Fabriktor. Alle hielten sie bangend nach Männern, Söhnen oder Vätern Ausschau. Auf der Suche nach meinen eigenen Angehörigen sah ich endlich meine kleine Schwester Noemi, damals ein dreizehnjähriges Mädchen. Verzweifelt lief sie von Bus zu Bus, um einen von uns zu entdecken. Schließlich bemerkte sie mich, aber es wurde uns untersagt, die Fenster herunterzulassen. Auch durfte niemand den Bus betreten. Stumm sahen wir uns durch das Fenster an; wir hatten beide das Gefühl, dass das Schicksal etwas Schreckliches mit uns vorhatte. Diese Blicke waren das Letzte, was ich von meiner kleinen Schwester mitnahm.

      Nach mehrstündiger Fahrt erreichten wir nachts ein hinter einem Wald gelegenes Gelände, auf dem einige halbfertige Baracken standen, unsere Behausung für die nun kommenden Wochen. Einige von uns wurden gleich zum Strohholen abkommandiert. Als sie zurückkamen, erzählten sie, das ganze Gelände werde von bewaffneten Posten in SA-Uniform bewacht.

      Als wir die Baracken betraten, starrten uns leere Wände entgegen. Beleuchtung gab es nicht. Das Stroh wurde auf dem Boden verteilt und uns befohlen, uns hinzulegen und Ruhe zu bewahren. Lange lagen wir wach und versuchten, die Ereignisse der letzten 24 Stunden in unserem verwirrten Gedächtnis zu ordnen. Wie Traumvisionen zogen die grausigen Bilder an unserem inneren Auge vorbei. Noch begriffen wir nicht ganz, dass man uns endgültig aus unseren Familien und Heimen gerissen hatte, dass es für uns keine Rückkehr gab. Wir konnten und wollten es nicht fassen, dass all das wirklich geworden war, was wir bisher nur vom Lesen und Hörensagen gewusst hatten. In unseren Ohren gellte noch das Geschrei, mit dem das Inferno begann: Juden raus! Alle Männer raus! Auf unschuldige, ahnungslose Menschen hatte man mit Gewehrkolben eingeschlagen, hatte die blutigen Gesichter alter Männer zertreten, hatte ihnen Fetzen der Gesichtshaut mitsamt dem Bart ausgerissen. Es waren Bilder, die sich dem Gedächtnis für immer eingruben, Bilder, die jetzt, in der Gefangenschaft, immer wiederkehrten und uns quälten und peinigten.

      Trotz all dieser Erlebnisse wollten wir die Hoffnung auf ein Weiterleben nicht aufgeben. Hatte uns die Gestapo nicht versprochen, wir würden als freiwillige Arbeiter gut behandelt werden?

      Mit der Ungewissheit im Herzen, was wohl meinem Vater zugestoßen sein mochte, mit dem Gedanken an eine kummervolle Mutter, mit der Sorge um meine übrigen Geschwister


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