10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4. divers
Dinner den Offizieren auf und trägt das Essen quer durchs Schiff, damit die Crew versorgt wird. Je länger er an Bord ist, umso mehr lernt er. Meist handelt es sich bei den Kabinenjungen um Knaben, die so das Handwerk erlernen und schließlich zu Matrosen werden.«
»Verstehe!«, sagte Holmes. »Ein Kabinenjunge könnte also durchaus Gift in das Essen mischen und so die Crew töten.«
»Schätze schon. Sie denken, es war der Schiffsjunge?«, fragte Lieutenant McMillan erstaunt.
Noch bevor mein Freund eine Antwort geben konnte, eilte Henderson herbei. »Kein Chinese, Sir!«
»Ja«, sagte Simpson zu dem Offizier der BOMBAY, »wir denken, es war der Schiffsjunge!«
*
Die Sonne ging bereits auf, als wir den Hafen in einer Kutsche der Polizei hinter uns ließen.
Müdigkeit kroch durch meinen Leib wie schleichendes Gift. Schon lange war ich nicht mehr derart lange wach gewesen. Aber Holmes hatte darauf bestanden, noch in der Nacht den Tatort zu besichtigen; zumindest, soweit dies im Schein der Lampen möglich gewesen war.
Ob er etwas gefunden hatte, vermochte ich nicht zu sagen, denn ich war bei diesen Untersuchungen nicht zugegen gewesen. Stattdessen hatte Holmes darauf bestanden, dass ich das Logbuch der Reise las.
So hatte ich die ganze Nacht im bequemen Sessel in der Kabine des Kapitäns gesessen und mir die diversen Eintragungen durchgelesen, während Holmes, begleitet von Henderson, durch das Schiff gegangen war, um Spuren zu suchen.
»Also, mein lieber Watson – was haben Sie erfahren?«, fragte Holmes nach wenigen Minuten. Mir waren fast die Augen zugefallen, sodass ich aufschrak und mich umschaute. »Bitte? Oh ja, der Fall!«
Ich sah ein schmales Lächeln um die Lippen meines Freundes spielen. Offenbar hatte er exakt jenen einen Moment abgepasst, um mich aus dem beginnenden Schlummer zu reißen.
»Die ROBERT CLIVE fuhr von London aus nach Hongkong, um Tee und Tuch abzuliefern und Seide sowie Gewürze aus China an Bord zu nehmen. Sie erreichte den Hafen der Kolonie planmäßig, die Fracht wurde rasch gelöscht und neue Ladungen an Bord genommen.«
Ich gähnte und versuchte, mich an die weiteren Abläufe zu erinnern. Dann fiel es mir wieder ein: »Captain Nolan sorgte dafür, dass sich die Crew zwei Wochen erholen konnte, ehe sie wieder in See stachen. In Hongkong nahm er ein weiteres Crewmitglied auf; einen Chinesen namens Charly Singh. Offenbar ist sein tatsächlicher Name unaussprechlich, daher nennt er sich Charly!«
Holmes winkte ab. Offenbar interessierte ihn nicht sonderlich, warum ein Chinese Charly hieß.
Rasch fuhr ich darum fort: »Singh bewarb sich bei ihm als Kabinenjunge, obwohl er bereits jenseits der Zwanzig war. Nolan nahm ihn dennoch an Bord, denn er konnte ein Empfehlungsschreiben eines britischen Offiziers vorlegen.«
»Interessant!«, sagte Holmes, und nun gähnte auch er. »Wie ging es weiter?«
»Im weiteren Verlauf lobte Nolan seinen neuen Kabinenjungen häufiger. Er schrieb, dass er selten einen fähigeren Burschen in dieser Position hatte als Singh. Er wolle jenem, der ihm den Mann empfohlen hatte, herzlich danken!«
»Steht in dem Logbuch, wer das war?«, fragte mein Freund.
»Nein, leider nicht. Das Empfehlungsschreiben war auch nicht beigefügt; ich habe sogar im Schreibtisch danach gesucht, es aber nicht gefunden.«
Holmes nickte lächelnd, sagte aber nichts.
»Schon früh geriet die ROBERT CLIVE in einen Sturm, überstand ihn aber ohne größere Schäden. Sie liefen eine bewohnte Insel an, um die Schäden zu reparieren. Anschließend verlief die Heimfahrt ohne weitere Komplikationen«, schloss ich meinen Bericht.
»Bis zu jenem Moment, da Charly Singh zum Mörder wurde!«, ergänzte Holmes.
»Richtig!« Ich schaute ihn an. »Nun, haben Sie etwas eruieren können?«
»Dies und das. Aber es ist noch zu früh, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ihr Bericht fügt sich jedoch in das kleine Puzzle ein. Sobald ich mehr weiß, werde ich es Ihnen sagen.« Er gähnte wieder und schloss die Augen.
»Aber Holmes!«, rief ich aus. »Wie geht es denn nun weiter?«
»Ich werde später am Tag Erkundigungen einziehen. Auch für Sie habe ich eine Aufgabe, aber darüber sprechen wir nach dem Aufstehen!«
Ich nickte und schon bald dösten wir beide. Erst in der Baker Street weckte uns der Constable, der die Kutsche steuerte.
Mrs Hudson schenkte uns empörte Blicke, als wir uns die Treppe hinaufschleppten. Als sie jedoch erfuhr, wo und mit was wir die Nacht zugebracht hatten, zeigte sie großes Verständnis und versprach, Sandwiches zu machen, wann immer wir erwachen würden.
»Ein Herz aus Gold hat diese Frau!«, sagte Holmes, während er in sein Schlafzimmer ging. »Zu schade, dass ich sie nicht mitnehmen kann, wenn ich mich zur Ruhe setze. Zu schade ...!«
*
Wir schliefen bis in den Nachmittag hinein. Dann erfrischten wir uns, tranken Tee und aßen die Sandwiches, bevor wir uns wieder an die Arbeit machten.
Holmes verschwand in seinem Zimmer und kam eine halbe Stunde später als alter Seemann wieder hervor; humpelnd, auf einem Ohr taub und mit einem buschigen Bart im Gesicht, der ihn völlig verfremdete. Zudem trug er derbe Hosen, ein Hemd, wie es Matrosen an Bord tragen, und eine Jacke gegen die Kälte.
An einer Kette baumelte eine von Salzwasser angegriffene Uhr, die Tabaksdose wies die Gravur einer Meerjungfrau auf und auf dem Kopf saß eine alte Matrosenmütze.
»Holmes!«, rief ich erstaunt aus. »Man erkennt sie nicht wieder!«
»Das ist auch der Sinn der Sache!«, nuschelte er und selbst seine Sprache war mir fremd.
»Wohin wollen Sie in diesem Aufzug?«
»Hä?«
Ich hob meine Stimme. »Wohin wollen Sie in diesem Aufzug?«
»Hä?«
Ich wurde noch etwas lauter. »Wohin wollen ...« Dann schüttelte ich anklagend den Kopf und schalt mich selbst einen Narren. »Ach Holmes, kommen Sie schon!«
Er kicherte. »Zum Hafen. Es wird Zeit, ein paar Schurken auf den Zahn zu fühlen!«
»Es gibt mehr als einen?«
»Der Hafen ist voll davon. Ich muss nur herausfinden, wer in der Sache mit der ROBERT CLIVE drinsteckt!«
»Und was soll ich tun? Sie sagten, Sie hätten eine Aufgabe für mich!«
Er nickte. »Ich möchte, dass Sie zum Büro der East India Company fahren und in den Büchern der letzten Jahre nachschauen, ob für einen Charly Singh Heuer gezahlt wurde und auf welchem Schiff er damals fuhr. Anschließend besorgen Sie mir eine Liste der Offiziere und der Crew jenes Schiffs!«
»Gut! Ich hoffe nur, sie gewähren mir Einblick. Diese Leute sind nicht gerade dafür bekannt, Außenstehenden solche Listen zu zeigen!«
»Sie haben gerade eine komplette Mannschaft verloren!«, erwiderte Holmes. »Ich vertraue auf Ihren Umgang mit Menschen, dass Sie das schaffen!«
»Wenn Sie das sagen!«
»Hä?«, rief er.
»Holmes!«
Lachend machte er sich auf den Weg.
*
Einst war die East India Companie ein mächtiges Wirtschaftsunternehmen, dem große Teile der Kolonien gehörten. Sie herrschten durch Ausbeutung und Gewalt, Korruption und offene Feindschaft. Es war keine gute Zeit für das Empire, denn die Company verstand es, den Ruf unseres schönen Landes zu beschmutzen.
Schließlich, aber auch das lag schon etliche Jahrzehnte zurück, griff die Regierung ein. Es kam zu Regulierungen,