10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4. divers
nachdem Holmes seine Verkleidung abgelegt und in die Baker Street zurückgekehrt war, erschien besagte Lily Hancock und bat um eine Unterredung – sie habe gehört, dass Holmes in außergewöhnlichen Fällen helfen könne, und auch wenn sie eine Gefallene sei, habe sie doch ihre Liebe für einen Mann entdeckt, der nun spurlos verschwunden sei. Da er sich mit Eddy ›the Menace‹ angelegt habe, befürchte sie nun das Schlimmste.
Holmes versprach, sich der Sache anzunehmen. Drei Tage später informierte er Lily, dass es dem Mann gut gehe, er jedoch die Stadt habe verlassen müssen und ihr alles Gute wünsche.
Es war einer dieser raren Momente, in denen ich Zeuge von Holmes’ ganzer Gutherzigkeit wurde. War er sonst allzu oft kühl und pragmatisch, so bewies er doch manchmal ein Fingerspitzengefühl, wie es selbst Geistlichen nicht immer zu eigen ist!
Ich nahm schon an, dass oben erwähnte Episode einen Schlusspunkt für den Monat setzen würde, denn er ging wie bereits gesagt zu Ende, als uns eines Morgens, wir hatten gerade unser Frühstück beendet und wollten uns den Tagesbeschäftigungen zuwenden, eine Frau im mittleren Alter aufsuchte.
Schon als Mrs Hudson das Wohnzimmer betrat, um sie anzukündigen, wirkte unsere Besucherin äußerst aufgebracht und nervös. Sie ließ Mrs Hudson nicht einmal ausreden, sondern drängte sie beiseite, eilte mit festem Schritt zu Sherlock Holmes und reichte ihm die Hand.
»Mein Name ist Emilia Moore und ich schwöre Ihnen, dass ich keinesfalls meinen Verstand verloren habe, ganz gleich, was immer Sie auch von mir gehört haben!«
Holmes betrachtete die Dame erstaunt, ehe er unsere etwas indigniert schauende Haushälterin bat, der Dame Tee und auch ein paar Sandwiches zu servieren; sie habe eine längere Fahrt hinter sich und es sei wohl anzunehmen, dass sie bei all der Hast des übereilten Aufbruchs keine Zeit fand, zuvor zu frühstücken.
»Woher … wissen Sie all das?«, fragte Mrs Moore, während sie sich fassungslos von mir zu einem Sessel führen ließ. »Haben Sie bereits mit meinem Mann gesprochen? Er ist auf dem Weg hierher, aber er wollte erst am Nachmittag eintreffen. Haben sich seine Pläne geändert?«
Sie schaute sich gehetzt um; so, als würde ihr Mann bereits in einer Ecke stehen und nur darauf lauern, von ihr entdeckt zu werden.
»Nein, nein, keine Sorge«, erwiderte Holmes freundlich. »Sehen Sie – mein Beruf bringt es mit sich, dass ich Dinge sehe, die anderen entgehen. Ich habe diese Fähigkeit zu einer Kunst erhoben, meine Beobachtungen laufen ganz automatisch ab.«
»Und woraus haben Sie all das geschlossen, was Sie Ihrer Haushälterin sagten?«, fragte Mrs Moore erstaunt.
»Beginnen wir mit dem übereilten Aufbruch. Sie werden mir zustimmen, dass sich eine Frau, ehe sie das Haus verlässt, einige Zeit nimmt, um ihr Äußeres in Ordnung zu bringen und sich entsprechend zu kleiden. Sehe ich jedoch eine hübsche und zivilisierte Dame mit zwei verschiedenen Haarspangen, so schließe ich daraus, dass sie sich für die Pflege nur wenig Zeit nehmen konnte. Auch fällt mir auf, dass Sie Ihren Handschuhen keinen zweiten Blick schenkten, ehe Sie diese anzogen; auf der linken Oberseite ist ein kleiner Fleck zu sehen, der schon vor ein oder zwei Tagen entstand. Hätten Sie sich sorgsam auf ihren Ausflug vorbereitet, wäre er Ihnen niemals entgangen!«
Unsere Besucherin errötete. Rasch entledigte sie sich ihrer Handschuhe und stopfte sie achtlos in ihre Tasche. Auch die Haarklammern entfernte sie, schüttelte das Haar aus und ließ es offen über die Schultern fallen. Zu meinem Erstaunen musste ich zugeben, dass sie auf diese Weise noch hübscher aussah.
»Und was die lange Fahrt anbelangt, so kann ich sogar sagen, dass sie auf der rechten Seite des Abteils saßen und schliefen!«
»Wie nur?«, rief Mrs Moore.
»Viele Leute schauen während der Fahrt aus dem Fenster. Bei längeren Fahrten, vor allem am frühen Morgen, fallen einem hierbei leicht die Augen zu. Sie saßen offenbar rechts, denn das Fenster befand sich zu Ihrer Rechten. Sie schauten hinaus, ihr Kopf fand Halt an der Stütze und Sie schliefen ein. Der Stoff Ihres Kragens und auch jener an der Schulter sind völlig verknittert, während die linke Seite glatt und ordentlich ist.«
»Sie haben recht, und zwar mit allem! Nun, da Sie es so erklären …« Sie lächelte scheu. »Und ich fürchtete bereits, mein Mann sei bei Ihnen gewesen! Aber nein, er konnte ja nicht wissen …«
Da Mrs Hudson den Tee und die Sandwiches servierte, blieb Mrs Moore etwas Zeit, um sich zu sammeln.
»Nun, was führt Sie her?«, fragte Holmes, nachdem unsere Besucherin einen ersten Schluck genommen und auch von dem Sandwich gekostet hatte.
»Es geht um die Vorgänge in unserem Haus, Mister Holmes!«, sagte sie, nun schon sehr viel ruhiger. »Auch wenn mein Mann fürchtet, ich könne allmählich den Verstand verlieren, glaube ich doch daran, dass sie real sind. So real wie Sie und ich, Mister Holmes!«
»Welche Vorgänge sind das?«, fragte mein Freund sanft. Dabei presste er die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und schloss die Augen, um sich konzentrieren zu können.
»Ich lernte meinen Mann Frederic vor einigen Jahren kennen. Er ist ein gut aussehender und wohlhabender Mittfünfziger, der einst in der Armee diente, eine Weile in den Kolonien lebte und dort sein Glück machte. Er kehrte als Junggeselle nach England zurück, und so lernte ich ihn kennen; freundlich, spendabel und ganz der Gentleman.«
Sie legte eine Pause ein, um sich zu stärken. Holmes sagte dazu nichts, doch seine linke Braue hob sich als Zeichen seiner Ungeduld.
»Wir heirateten vor fast genau fünf Jahren und bisher fiel kein Schatten auf unsere Ehe. Ich schenkte Frederic einen Sohn sowie eine Tochter, beide sind gesund und aufgeweckt, soweit man dies in diesem Alter beurteilen kann. Wir leben in einem Haus außerhalb von Leicaster, umgeben von einem großen Garten. Unsere nächsten Nachbarn leben über eine Meile entfernt; einst gehörte das Grundstück einem Baron, der jedoch ohne Nachkommen verstarb. Mein Mann erwarb es günstig und ließ es renovieren.«
Wieder nahm sie einen Bissen. Holmes bewegte den Fuß ungeduldig, denn noch immer war Mrs Moore nicht zum Kern des Problems vorgestoßen.
»Die Schwierigkeiten«, hob unsere Besucherin an, als habe sie die Geste verstanden, »begannen vor etwa einem Monat. Ich war an einem der wenigen trockenen Tage im Garten und ging dort ein wenig spazieren, als ich hinter dem Fenster des Dachbodens eine Bewegung wahrnahm. Ich blickte hinauf und sah eine weiße Gestalt am Fenster stehen. Kaum kreuzten sich unsere Blicke, als sie auch schon verschwand. Ich kenne unser Personal und wusste, dass es sich bei der Gestalt keinesfalls um einen Bedienten handeln konnte. Was also hatte eine Fremde in unserem Haus verloren? Ich eilte sofort hinein, doch als ich den Boden erreichte, war dort niemand zu finden. Ich befragte das Personal, aber niemand hatte eine Fremde kommen oder gehen sehen!«
»Wo befand sich Ihr Mann zu diesem Zeitpunkt?«, fragte Holmes, ohne seine Augen zu öffnen.
»Er war in Leicaster. Zwar geht er keiner geregelten Arbeit nach, doch hin und wieder veröffentlicht er in einem lokalen Blatt Rezensionen oder auch eigene Kurzgeschichten. Es ist ein Hobby, nicht mehr, aber da er sein Geld bereits machte, kann er es sich erlauben, sich diesem viele Stunden am Tag zu widmen.«
»Und was sagte er, als Sie von den Ereignissen berichteten?«, wollte mein Freund wissen.
»Er tat es ab. Vielleicht, so mutmaßte er, sah ich mein eigenes, verstelltes Spiegelbild. Etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ausschließen wollte. Und in den Tagen nach diesem Ereignis blieb es auch ruhig. Dann aber geschah etwas, das mich in Angst versetzte! Ich saß im Nähzimmer im ersten Stock des Hauses, als ich über mir, auf dem Boden, Schritte hörte. Ich bin mir völlig sicher, Mister Holmes!«
Ich rief sofort nach meinem Mann und gemeinsam gingen wir hinauf. Doch als wir den Speicher betraten, war dort keine Menschenseele zu entdecken! Wir öffneten die Schränke und Kisten, aber abgesehen von alten Kleidern, etwas Porzellan und Kinderspielzeug, das dem verstorbenen Baron gehört hatte, fanden wir nichts.«
»Bemerkenswert!«, sagte Holmes. »Wie ging es weiter?«
»Mein