Auf keinen Fall wir. Iris W. Maron
dass er etwas Schriftliches in der Hand hat. Also beschließe ich, alle Studierenden zu zwingen, ihre Referate mit mir zu besprechen, bevor sie sie halten. Normalerweise mache ich so etwas nicht. Meine Lehrveranstaltung wird jetzt pädagogisch noch wertvoller. Weil ich was mit meinem Studenten hatte.
Scheiße, was für eine Ironie.
Wider Erwarten sitzt Sven tatsächlich in der zweiten Einheit meiner Lehrveranstaltung. Er begrüßt mich, als ich eintrete, sogar mit einem leichten Lächeln und einem kleinen Zucken seiner Augenbrauen. Ich ignoriere das.
Ich hatte wirklich erwartet, dass er den Kurs abbricht. Andererseits ist die Auswahl an Kursen nicht groß – und meiner ist mit Abstand der spannendste. Wohl oder übel eröffne ich den Studierenden also gleich zu Beginn, dass sie in der Woche, bevor sie ihr Referat halten, zu mir in die Sprechstunde kommen sollen. Sven ist praktischerweise der erste Referent, das habe ich heute Morgen noch überprüft. Dann kann ich dieses leidige Gespräch noch heute hinter mich bringen.
Die Einheit läuft, wie schon die letzte, trotz der Umstände gut. Es liegt mir einfach, zu unterrichten, und ich merke, dass ich die Studierenden mitreiße.
Direkt nach der Lehrveranstaltung findet meine Sprechstunde statt. Zum Glück verlässt Doris dafür immer das Büro. Fünf Minuten nach Beginn der Sprechstunde klopft es an der Tür.
»Herein!«, rufe ich.
Sofort öffnet sich die Tür und Sven tritt ein.
»Komm rein«, sage ich. Ich duze ihn, alles andere wäre einfach nur lächerlich. »Du kannst die Tür offen lassen, wenn dir das lieber ist.«
»Geht schon«, meint Sven und schließt die Tür hinter sich. »Du wirst ja nicht gleich über mich herfallen.«
Er sieht mich an und grinst. Der Anblick fährt mir sofort in den Schritt. Das ist der gleiche Blick wie am Samstag, bevor er sich ausgezogen hat. Wenn er mich so ansieht, bin ich tatsächlich in Versuchung, gleich über ihn herzufallen.
Ich reagiere nicht und der Moment geht vorüber.
Bin ich echt schon so notgeil? Mein letztes Mal war mit ihm. Ich sollte dieses Wochenende dringend ausgehen und mir wen aufreißen. Wenn diese Stadt nur nicht so ein Kaff wäre! Ah, nein, das geht ja gar nicht, dieses Wochenende kommt meine Schwester zu Besuch. Dann wird das nichts mit einem Aufriss. Oh Mann, ich sollte echt nicht an Sex denken, wenn ich mit Sven reden muss.
Ich rücke meine Brille zurecht und deute auf den Stuhl, der für Sprechstunden neben meinem Schreibtisch steht.
»Setz dich.«
Sven tut, wie ihm geheißen, und sieht mich fragend an. Ich bemühe mich um eine neutrale Miene und ein professionelles Auftreten.
»Du hast also das erste Referat.«
Sven nickt und ich schiebe automatisch noch mal meine Brille zurecht. Möglichst sachlich und distanziert erkläre ich ihm dann, wie ich mir das Referat vorstelle und was ich von ihm erwarte. Er soll begreifen, dass dies das einzige Thema ist, worüber wir in Zukunft sprechen werden und dass dies die einzige Art ist, auf die wir zukünftig Gespräche führen werden. Ich der Dozent, er der Student, und den Rest vergessen wir.
Sven hört aufmerksam zu und macht sich ein paar Notizen. Streber.
»Alles klar so weit?«, frage ich, nachdem ich mit meinem Sermon fertig bin.
»Ja«, bestätigt Sven.
Ich lehne mich zurück und taxiere ihn abwägend.
»Ich hoffe, die Art, wie wir uns kennengelernt haben, beeinträchtigt deine Leistungen in der Lehrveranstaltung nicht«, sage ich auf die gleiche nüchterne, kühle Art, auf die ich ihm zuvor meine Anforderungen an sein Referat erklärt habe.
Sven blinzelt irritiert, dann schüttelt er den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Gut. Dann verspreche ich dir, dass es auch nicht beeinflusst, wie ich dich beurteilen werde. Ich behandle dich wie alle anderen auch.«
»Hm, ja, danke.«
»Und ich erwarte von dir, dass du dich benimmst wie alle anderen auch.«
»Hatte nichts anderes vor«, erwidert er und sieht mir fest in die Augen. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich meine, ein bockiges Funkeln in seinem Blick zu sehen. Darauf gehe ich aber nicht weiter ein.
»Gut. Dann verstehen wir uns ja.«
»Ja, klar.«
Ich nicke noch einmal, fühle mich sehr souverän und schiebe meine Brille zurecht.
»Hast du noch Fragen?«, erkundige ich mich dann, weil sich das am Schluss der Sprechstunde nun einmal so gehört.
»Nein«, erwidert Sven.
»Dann wäre das alles«, erkläre ich.
»Okay«, brummt Sven, räumt sein Notizbuch in seinen Rucksack und steht auf.
Ich wende mich unterdessen meinem Computer zu und rufe meine Mails auf. Sieben neue Nachrichten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Sven noch vor meinem Tisch steht und mich ansieht. Wortlos. Den Rauswurf letzten Samstag hat er irgendwie besser verstanden.
»Tschüss«, sage ich deswegen, ohne mich noch mal zu ihm zu drehen.
Von Sven kommt noch ein leises »Tschüss«, dann verlässt er endlich mein Büro und schließt die Tür hinter sich.
Kaum ist er weg, lehne ich mich in meinem Stuhl zurück, fahre mit beiden Händen durch meine Haare und atme tief aus. Ich merke erst jetzt, wie angespannt ich war. Gut, dass ich das hinter mir habe.
Kapitel 4
Am Freitagabend stehe ich am Bahnhof und warte. Angeblich soll Miris Zug pünktlich ankommen. Noch wage ich nicht, an dieses Wunder zu glauben. Doch tatsächlich: Der Zug aus Frankfurt hat keine Verspätung. Und er spuckt unendlich viele Menschen aus. Suchend sehe ich mich um, kann Miri aber nicht entdecken.
Plötzlich legen sich von hinten zwei Hände auf meine Augen und eine eindeutig verstellte Stimme krächzt: »Wer bin ich?«
»Angela Merkel!«, rufe ich sofort.
Die Hände lösen sich von meinem Gesicht und ich drehe mich zu Miri um. Man sieht, dass wir Geschwister sind. Miri hat die gleichen blaugrauen Augen wie ich, die mich jetzt belustigt anstrahlen. Wir haben ähnliche Gesichtszüge und wenn sie sie nicht seit Jahren blond färben würde, wären ihre Haare so hellbraun wie meine.
»Angela Merkel?«, prustet Miri.
Ich lache und umarme Miri fest. Ich liebe meine Schwester, auch wenn unser Verhältnis in letzter Zeit manchmal etwas angespannt ist. Früher war Miri wild und frei. Sie war nach der Schule ein Jahr in Australien, während des Studiums hatte sie Auslandsaufenthalte in San Francisco und Oslo. Sie hatte Affären mit Männern und Frauen, war oft verliebt und trotzdem immer ungebunden.
Seit sie jedoch mit diesem Kerl zusammen ist, hat sie sich verändert. Er heißt Oskar, ist Mitte vierzig und Miri meint, er ist distinguiert. Ich meine, er ist aalglatt. Miri liebt ihn. Und sie passt sich ihm an. Einen Job in Singapur hat sie seinetwegen abgelehnt. Sie verbringt fast nur noch Zeit mit ihm und mit Dingen, die ihm gefallen. Er wandert, also tut sie das auch. Er trinkt nur Rotwein, also tut sie das auch. Er geht früh schlafen, also tut sie das auch. Früher war sie eine Bier trinkende Nachteule, die keine zehn Pferde auf einen Berg bekommen hätten. Alles in ihrem Leben dreht sich nur noch um Oskar.
Umso mehr freut es mich, dass sie heute allein gekommen ist. Ein Wochenende nur sie und ich, ohne Oskar. Fast wie früher, als wir während des Studiums in einer WG gewohnt haben. Und genau wie früher bestellen wir auch heute, nachdem wir bei mir angekommen sind, Pizza und überbrücken die Wartezeit mit Cocktails.
Wenn wir zusammen sind, quasseln wir eigentlich ununterbrochen. Miri redet fast so viel wie ich. Sie sprudelt immer nur so über vor Geschichten und Anekdoten. Bis sie mich auf den neuesten Stand gebracht hat, was ihren Job – Miri hat Biochemie studiert