Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Instrumentalmusik hohen Stils.
Nachdem die Familie wieder in die Stadt gezogen war, wurde sie am 25. Oktober abermals bei Hofe eingeladen. Es war der vierte Jahrestag der Thronbesteigung des Königs, der am Hofe wie in der Stadt festlich begangen wurde. L. Mozart ließ nun als ein Denkmal der königlichen Gnade sechs neue von Wolfgang komponierte Sonaten für Klavier und Violine oder Flöte auf seine Kosten stechen, die der Königin mit einer vom 18. Januar 1765 datierten und von ihr mit 50 Guineen belohnten Widmung zugeeignet wurden; am 20. März kamen sie in den Handel (K.-V. 10–15)72.
Am 21. Februar traten die "Wunder der Natur" wieder in einem mehrmals aufgeschobenen Konzert öffentlich auf. Die Anzeige im "public advertiser" fügte hinzu: "alle Ouvertüren (d.h. Sinfonien) sind von diesem staunenswerten, nur 8 Jahre alten Komponisten."73 Die Zeit war der politischen Verhältnisse und der Krankheit des Königs wegen nicht günstig, "andere Plaisirs" standen ihnen auch im Wege, die Einnahme fiel nicht so gut aus, wie man gehofft hatte. Nur nach wiederholten Ankündigungen, die auf die bevorstehende Abreise der Kinder hinwiesen, und zu herabgesetztem Preise kam am 13. Mai ein Konzert zustande. "Es war etwas ganz Bezauberndes", berichtete die Salzburger Zeitung74, "die vierzehn Jahre alte Schwester dieses kleinen Virtuosen mit der erstaunlichsten Fertigkeit die schwersten Sonaten auf dem Flügel abspielen und ihren Bruder auf einem anderen Flügel solche aus dem Stegreif accompagnieren zu hören." Auch spielte Wolfgang auf einem Flügel mit zwei Manualen und Pedal, den der Instrumentenmacher Tschudi für Se. Kön. Preußische Majestät gebaut hatte75, er war froh, "seinen außerordentlichen Flügel durch den außerordentlichsten Klavierspieler dieser Welt das erste mal spielen zu lassen". Von da an lud L. Mozart wiederholt das Publikum ein, die jungen Wunder privatim zu hören und zu prüfen, täglich von 12 bis 2 Uhr, anfangs in ihrer Wohnung, später in einem Gasthof, nicht von erstem Range. Als etwas Außerordentliches wurde verheißen, daß beide Kinder zu vier Händen auf demselben Klavier mit verdeckten Tasten spielen würden. Auch komponierte Wolfgang hier sein erstes vierhändiges Stück, was L. Mozart zu der – allerdings unrichtigen – Bemerkung veranlaßte, daß es bis dahin nirgends eine vierhändige Sonate gegeben habe.76
Eine wiederholte und gewissenhafte Prüfung der Fähigkeiten und Leistungen des Wunderkindes nahm im Juni ein als Rechtsgelehrter und Naturkundiger geachteter Mann, Daines Barrington, vor und erstattete darüber ausführlichen Bericht77. Gewissenhaft hatte er sich einen Taufschein Wolfgangs verschrieben, um über sein Alter sicher zu sein, und sich überhaupt zuverlässige Nachrichten von ihm verschafft. Außer den gewöhnlichen Probestücken, schwierige Klaviersachen "a vista" zu spielen und aus einer ihm unbekannten Partitur sicher und geschmackvoll zu singen und zu begleiten, veranlaßte er ihn zu einer Improvisation. Er bat den Knaben, ihm einen Liebesgesang zu improvisieren, wie ihn etwa Manzuoli in der Oper singen möchte. Sogleich begann Wolfgang einige Worte herzusagen, die einem einleitenden Rezitativ entsprachen, darauf folgte ein Musikstück auf das Wort affetto (Liebe) komponiert, ungefähr von der Länge einer gewöhnlichen Arie, regelrecht in zwei Teilen. In derselben Weise ließ er dann einen Gesang des Zornes hören, auf das Wort perfido (Treuloser) komponiert, wobei er in eine solche Begeisterung geriet, daß er wie ein Besessener auf das Klavier schlug und mehrmals von seinem Sessel in die Höhe fuhr. Barrington bemerkt, daß diese improvisierten Kompositionen, wenn auch nicht staunenswert, doch weit über das Gewöhnliche erhaben und Beweise einer bedeutenden Erfindungskraft gewesen seien. Man sieht also, daß nicht bloß die technische Ausbildung so merkwürdig vorgeschritten war, daß der Knabe die Regeln und die Formen der Komposition mit einer gewissen Freiheit beherrschte, sondern daß auch die Begeisterung einer künstlerisch angeregten Phantasie ihn wirklich schöpferisch machte. Reizvoll ist es, hier schon die ersten Regungen des dramatischen Elements wahrzunehmen, das sich später in Mozart als das wesentlich gestaltende entwickelt, und wie er dem Ausdruck einer bestimmt ausgesprochenen leidenschaftlichen Stimmung bereits die feste Form zu geben weiß. Den Beleg dazu gibt eine in London 1765 komponierte Tenorarie "Va dal furor portata" (K.-V. 21, S. VI. 1), die, in der regelrechten Da-capo-Form knapp ausgeführt, zwar keine Originalität, aber Sinn für charakteristischen Ausdruck verrät.
In der letzten Zeit ihres Aufenthalts besuchten sie auch das britische Museum, dessen naturhistorische und ethnographische Merkwürdigkeiten Marianne sich aufschrieb. Auf einen ihm ausgesprochenen Wunsch schenkte Wolfgang dem Museum nicht allein seine gedruckten Sonaten, sondern auch eine handschriftliche Komposition (K.-V. 20 S. III. 9)78. Es ist ein kurzes vierstimmiges Madrigal "God is our refuge", dessen Melodie vielleicht eine gegebene war. Dann ist jedenfalls die Bearbeitung ein merkwürdiger Beweis, nicht allein von dem Geschick des Knaben, sondern auch von seiner Fähigkeit, eine eigentümliche Form aufzufassen und wiederzugeben79.
Von einer ganz anderen Seite freilich zeigt sich uns der junge Mozart in einer Sammlung von 43 Stücken, die laut dem Vermerk des Vaters 1764 in London entstanden sind80. Ein Skizzenbuch im Sinne der Beethovenschen ist sie schon deshalb nicht, weil Mozart später auf kein einziges von den Stücken zurückgekommen ist; sie ist vielmehr ein Übungsbuch, worin sich der Knabe in den verschiedensten Formen versuchte, und zwar, was das Wichtigste ist, ganz für sich allein, ohne die Hilfe des Vaters. Wahrscheinlich stammt es aus der Zeit der unfreiwilligen Muße von Chelsea, wo der Vater krank darniederlag und Wolfgang deshalb kein Klavier benutzen konnte.
Die Ansicht, daß Mozart auch als Komponist schon in London auf der vollen Höhe der Meisterschaft gestanden habe, wird durch dieses Notenbuch gründlich widerlegt, und wir müssen einen großen Teil des Lobes, das wir bisher den fertigen Kompositionen aus dieser Zeit gezollt haben, vom Sohne auf den Vater übertragen, der in manchen Fällen überhaupt erst Ordnung geschaffen haben mag. Wer es bei Mozart nur mit dem Bewundern hält, mag enttäuscht sein; der Vernünftige wird sich erleichtert fühlen, wenn er sieht, daß auch Mozart sich zwar früher und rascher als gewöhnliche Sterbliche, aber doch gesund und ohne übernatürliche Sprünge entwickelt hat. Nicht einmal auf sein inneres Ohr konnte er sich damals fest verlassen, wie die zahlreichen klanglichen Unmöglichkeiten beweisen, die er mit Hilfe des Klaviers sicher erkannt und beseitigt hätte. Aber es finden sich außerdem noch zahlreiche Satzfehler, und zwar meist da, wo es sich um verwickeltere kontrapunktische und harmonische Aufgaben handelt81. Das war also damals noch die schwächste Seite seines Könnens. Auch die melodische Arbeit steht bei weitem nicht auf der Höhe. Vor allem zeigt sich bereits hier eine Schwäche, mit der Mozart noch jahrelang zu kämpfen hatte und die im Grunde nichts anderes war als die Kehrseite seines Ideenreichtums: er bleibt nicht bei den einmal gewählten Gedanken, er verarbeitet sie nicht, sondern ersetzt sie, wenn es ihm gut dünkt, einfach durch neue. Manchmal tragen diese Sprünge ein geradezu herausforderndes Gepräge, als wollte der von der väterlichen Zucht befreite Knabe einmal tüchtig den Stürmer und Dränger spielen (Nr. 28)82, zumeist aber tut diese Art des Aneinanderstückelns, die zudem mitunter noch arges Ungeschick verrät, der Einheitlichkeit der Wirkung empfindlich Abbruch.
Der Form nach sind die Stücke mit wenigen Ausnahmen einfache zweiteilige Tänze, Rondos und Sonatensätze. Die Tänze sind augenscheinlich dem Muster des väterlichen Notenbuches von 1762 (s.o.S. 26 ff.) nachgebildet. Schon die große Zahl der Menuette (12) spricht dafür. Dazu kommt eine offenbar auf Pariser Eindrücke zurückgehende Reihe von Kontretänzen, von denen allerdings einige mit österreichischen, speziell böhmischen Tanzrhythmen durchsetzt sind (Nr. 5 und 32). Im ganzen genommen sind gerade diese Tanzstücke am besten geglückt; sie überraschen namentlich durch Züge herzhafter Kindlichkeit, die wir in den veröffentlichten Kompositionen vergebens suchen; in Nr. 31 ist der an das "Veilchen" gemahnende Beginn schon ganz von der späteren schwärmerischen Kantabilität erfüllt. An Gegensätzen fehlt es zwar auch hier nicht. Schon im ersten Teil lautet der Nachsatz meist ganz anders als der Vordersatz, und auch der zweite beginnt häufig mit neuen Gedanken, lenkt aber dann in die Schlußphrase des ersten zurück. Trotzdem fügt sich alles zwangslos zusammen, die Harmonik verläuft regelrecht, und die gleiche Länge beider Teile erhöht in den Menuetten die einheitliche Wirkung83. Bei den Rondos fällt auf, daß ihre Seitensätze, wie die Trios in den Menuetten von Wagenseil und zum Teil auch von L. Mozart, durchweg in Moll stehen, in vier Fällen (Nr. 11, 18, 32 und dem 2. Seitensatz von Nr. 33) offenbart sich schon die spätere Neigung, an der trüben Mollstimmung zäh festzuhalten84.