Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
S. XXI. 1.) und über eine andere Melodie, "die in Holland durchaus von jedermann gesungen, geblasen und gepfiffen wird" (K.-V. 25, S. XXI. 2.). Das war das alte Heldenlied des niederländischen Volkes: "Wilhelmus van Nassouwe", die älteste nachweisbare "Nationalhymne", deren Text dem bekannten Geusenführer Marnix van St. Aldegonde zugeschrieben wird; die Melodie findet sich zum ersten Male in M. Francks "Reuterliedlein" von 1603, dann in A. Valerius' "Nederlantsche Gedenck-clanck" 1626102. Dieses Wilhelmuslied fehlte in Holland bis auf heute bei keiner vaterländischen Feier103, es kam auch bei der damaligen Installation gebührend zu Ehren104. Für ein dabei gegebenes Konzert komponierte Wolfgang ein Orchesterstück in der Art der noch damals, besonders in Süddeutschland beliebten Quodlibets, der Vorgänger der heutigen Potpourris; d.h. er reihte verschiedene bekannte Melodien in witzigem Gegensatz und entsprechender Instrumentation aneinander und schloß mit einer Fuge über das Wilhelmuslied. Das Ganze nannte er "Galimathias musicum". L. Mozart führte das Werk in seinem Katalog der Werke Wolfgangs bis 1768 auf; erhalten ist es uns in zwei Fassungen, deren Verhältnis zueinander immer noch nicht ganz aufgeklärt ist105. Auch die Herkunft der einzelnen Stücke ist noch nicht durchweg festgestellt. Den Anfang macht ein bekanntes Händel-Zitat, das hier von Mozart sehr großartig durchgeführt wird, als handelte es sich um eine feierliche französische Ouvertüre. Aber statt des erwarteten Allegros tritt der Cembalist hervor und wartet mit einem lustigen Stücklein im Stile der "Husaren"- und verwandter Tänze auf, wie sie in den deutschen handschriftlichen Sammlungen zahlreich vertreten sind106. Nach einer gewalttätigen Orchesterfermate folgt ein manierlicheres, der Gesellschaftsmusik angehörendes Menuett. Das Trio freilich, das ihm folgen soll, läßt sich recht grämlich an (Adagio d-Moll), ein ungestümes Pochen, einige erwartungsvolle Akkorde darauf – da springt plötzlich in den Hörnern die deutsche Volksweise "Ich wollt es wäre Nacht" auf den Plan und zeigt an, daß es sich um ein Abenteuer beim "Fensterln" handelt107; richtig trollt sich denn auch im folgenden Adagio der verschmähte Liebhaber in der entgegengesetzten Richtung kleinlaut davon. Die nächste Gruppe führt uns mitten in ein Bauernfest hinein, bei dem sich Wolfgang augenscheinlich der väterlichen "Bauernhochzeit" erinnert hat, wie auch dessen Pastoralsinfonie in dem G-Dur-Satz (34) noch deutlich nachklingt108. Im Allegretto scheinen Dorfmusikanten aufzuziehen, abermals folgt ein handfester Bauerntanz mit Dudelsackbässen und mit erhöhter Quart109 und schließlich eine noch heute bekannte Schuhplattlerweise, worauf die Musik wieder abzieht und die Bässe das Wilhelmuslied als Fugenthema anstimmen. Das ganze Stück, das jedenfalls ganz besonders nach Leopolds Herzen war, und an dem ihm deshalb sicher auch ein starker Anteil zufällt, ist wichtig, weil es zeigt, daß alle Reiseeindrücke doch nicht das Band mit der heimatlichen deutschen Volksmusik zu zerreißen vermochten.
Auch dem Vater widerfuhr damals eine schmeichelhafte Auszeichnung; man übersetzte seine Violinschule ins Holländische und widmete sie zur Installationsfeier dem Prinzen von Oranien110. Der Verleger überbrachte sie Leopold Mozart in Begleitung des Organisten, der Wolfgang einlud, auf der berühmten großen Orgel in Haarlem zu spielen, was auch den folgenden Tag geschah.
Nach den Festlichkeiten blieb die Familie noch fünf Wochen im Haag, und die Kinder spielten noch mehrere Male bei Hofe. Dann begaben sie sich auf die Rückreise, gaben am 16. April noch ein Konzert in Amsterdam und wenige Tage später eins in Utrecht, wie aus dem Beschlusse des städtischen Musikkollegiums vom 18. April hervorgeht111. Nunmehr reisten sie über Mecheln, wo sie ihren alten Bekannten, den Erzbischof Johann Heinrich Grafen von Frankenberg besuchten, nach Paris, und trafen dort am 10. Mai112 in einer von Freund Grimm besorgten Wohnung ein. Man fand, wie dieser berichtet, dort sowohl die Tochter als besonders den Sohn ungemein vorgeschritten; allein die Teilnahme des Publikums, die mehr dem Wunder so jugendlicher Virtuosität galt als der ungleich bedeutenderen Entwicklung eines außerordentlichen Genies, scheint doch nicht in gleichem Maße rege gewesen zu sein, wie bei ihrem ersten Aufenthalt. Indessen mußten sie wiederholt in Versailles bei Hofe spielen; die Prinzessin von Orleans, spätere Herzogin von Condé, rechnete es sich zur Ehre, Wolfgang ein kleines Rondo für Klavier und Violine von ihrer Komposition zu überreichen113. Der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, der braunschweigische Achilles, wie ihn Winckelmann nennt114, den die Lorbeeren des Siebenjährigen Krieges berühmt gemacht hatten, suchte sie hier auf. "Er ist ein sehr angenehmer schöner freundlicher Herr", schreibt L. Mozart, "und bei seinem Eintritt fragte er mich, ob ich der Autor des Buches über die Violin wäre". Er war nämlich nicht bloß ein Mann von Einsicht und feinem Geschmack in der Musik, sondern spielte so gut Violine, "daß ein Musikus von Profession dadurch sein Glück machen könnte"115. Über Wolfgang sagte er, daß viele Kapellmeister stürben, ohne das gelernt zu haben, was der Knabe jetzt schon könnte. In der Tat bestand er Wettkämpfe mit den ausgezeichnetsten Künstlern auf der Orgel, dem Klavier, im Improvisieren, aus denen er als Sieger oder wenigstens in allen Ehren hervorging. Am 12. Juni komponierte er ein kleines Kyrie für vierstimmigen Chor mit Begleitung von Saiteninstrumenten (K.-V. 33, S. III. 1), das, auf einer französischen Liedmelodie aufgebaut, den Knaben wieder vollständig im Pariser Fahrwasser zeigt.
Am 9. Juli verließen sie Paris, begaben sich zunächst auf die Aufforderung des Prinzen von Condé nach Dijon, wo die Stände von Burgund versammelt waren116, dann nach Lyon. Hier lernten sie während eines Aufenthaltes von vier Wochen einen Kaufmann Meurikofer kennen, der Wolfgang wiederholt den Spaß machen mußte, ein italienisches Lied mit der Brille auf der Nase zu singen. In Genf, wo sie alles in Unruhe fanden, blieben sie drei Wochen; in Lausanne mußten sie auf Bitten vornehmer Herrschaften, namentlich des Prinzen Ludwig von Württemberg (des Bruders des Herzogs Karl), der sie ungemein freundschaftlich behandelte, fünf Tage bleiben117; von da ging es nach Bern, wo sie acht Tage, und nach Zürich, wo sie vom 19. September bis 3. Oktober verweilten. Hier verlebten sie in der Gesnerschen Familie frohe Tage und schieden mit schwerem Herzen. Unter anderen Büchern, die man ihnen dort als Andenken verehrte, schenkte Salomon Gesner ihnen seine Werke mit folgender Zuschrift:
Nehmen Sie, werteste Freunde, dies Geschenk mit der Freundschaft, mit der ich es Ihnen gebe. Möchte es würdig sein, mein Andenken beständig bei Ihnen zu unterhalten. Genießen Sie, verehrungswürdige Eltern, noch lange die besten Früchte der Erziehung in dem Glücke Ihrer Kinder; sie seyen so glücklich, als außerordentlich ihre Verdienste sind! In der zartesten Jugend sind sie die Ehre der Nation und die Bewunderung der Welt. Glückliche Eltern! Glückliche Kinder! Vergessen Sie alle nie den Freund, dessen Hochachtung und Liebe für Euch sein ganzes Leben durch so lebhaft sein werden als heute.
Zürich, den 3. Weinmonat 1766
Salomo Gesner
In Zürich sind sie aber auch öffentlich aufgetreten, und zwar in einem Konzert der Musikgesellschaft, in dem Orchesterwerke aufgeführt wurden118.
Über Winterthur und Schaffhausen, wo sie vier Tage angenehm zubrachten, reisten sie nach Donaueschingen, wo der Fürst Joseph Wenzeslaus von Fürstenberg sie schon erwartete und durch seinen Musikdirektor Martelli empfangen ließ. Während zwölf Tagen war neunmal abends von 5–9 Uhr Musik, wo sie jederzeit etwas Besonderes aufführten; reich beschenkt entließ sie der Fürst, durch den Abschied bis zu Tränen gerührt. In Biberach veranlaßte Graf Fugger von Babenhausen, daß Wolfgang auf der Orgel einen Wettkampf mit Sixtus Bachmann unternahm, der, nur zwei Jahre älter als Wolfgang, durch seine musikalischen Leistungen großes Aufsehen erregte. "Jeder tat sein Äußerstes um dem andern den Vorzug streitig zu machen und für beide fiel der angestellte Wettstreit sehr rühmlich aus."119 Dann gingen sie über Ulm, Günzburg, Dillingen (wo sie vor dem Fürsten spielten) und Augsburg nach München. Am 8. November angelangt, stellten sie sich am folgenden Tage dem Kurfürsten bei Tafel vor. Wolfgang mußte gleich neben ihm auf der Tafel auf ein Thema von einigen Takten, das der Kurfürst ihm vorsang, ein Stück mit Bleistift komponieren, das er dann im Kabinett zu allgemeinem Erstaunen vorspielte. Ein Unwohlsein, von dem Wolfgang hier befallen wurde, scheint eine Reise nach Regensburg, zu der sie aufgefordert wurden, verhindert zu haben: gegen Ende November 1766 traf die Familie Mozart wieder in Salzburg ein.