Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Sturm und Drange nichts. Sie sucht sich die Tradition, statt sie rein gefühlsmäßig abzulehnen, vielmehr nach Kräften zu eigen zu machen und so zu überwinden. Es sind bezeichnenderweise gerade die großen Willensnaturen der Musikgeschichte, die in dieser Weise ganz planmäßig vorgehen und Phantasie und Kunstverstand gleichermaßen in den Dienst ihrer klar erfaßten Kunstideale stellen. Es kommt ihnen auch nicht darauf an, um jeden Preis Neues zu sagen, sondern darauf, das, was sie zu sagen haben, nach Form und Inhalt auf den klarsten und überzeugendsten Ausdruck zu bringen. Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied beider Gruppen in ihrem Verhältnis zu den bestehenden Formen: jene sucht sie bewußt aufzulösen und zu sprengen, diese von innen heraus um- und weiterzubilden, weshalb denn auch der Bruch mit dem Bestehenden bei ihr erst weit später sichtbar wird.
Der junge Mozart läßt sich in keiner von beiden Gruppen unterbringen. Weder in der Form noch im Ausdruck tritt er als bewußter Neuerer auf, aber ebensowenig regt sich bei ihm irgendwelche Kritik an der Überlieferung in dem Sinne, daß er sich mit festem Willen ein bestimmtes Ziel für seine Weiterentwicklung gesteckt hätte. Er ist wohl der sensibelste unserer großen Tonmeister gewesen. Die künstlerische Außenwelt wirkte weit lebhafter auf ihn ein, neue Eindrücke rührten seine Seele weit stärker auf, als es bei den meisten Musikern der Fall zu sein pflegt, und er hat sich diese eigentlich kindliche Fähigkeit, Alltägliches als neu aufzufassen, bis an sein Lebensende zu bewahren gewußt. So blieb er von keiner der musikalischen Strömungen seiner Zeit unberührt, und namentlich in seiner Jugendzeit gab er sich ihnen, dem jungen Goethe vergleichbar, rückhaltlos und ohne bestimmten Plan hin, wie ein Schmetterling von Blume zu Blume dahinflatternd; erst ganz allmählich erwacht in ihm der Drang, über all diesen Reichtum bewußt zu verfügen. Aber seine im höchsten Sinne produktive Natur nahm nicht nur auf, sondern ahmte zugleich auch schaffend nach. Sämtliche Richtungen auf vokalem und instrumentalem Gebiet, die seinen Lebensweg kreuzten, weckten seinen Nachahmungstrieb und dabei zeigt sich, daß seine Anpassungsfähigkeit nicht weniger erstaunlich war als sein Anpassungsbedürfnis. Dem Meister, der gerade den stärksten Eindruck auf ihn machte, verschrieb er seine ganze Seele, ja er schlüpfte sozusagen in die Haut des Vorbildes gelegentlich so völlig hinein, daß das Werk des Schülers von dem des Meisters kaum zu trennen ist. Das hinderte aber durchaus nicht, daß oft schon wenige Wochen darauf ein neues Ideal auftauchte, das seinem Schaffen wieder eine ganz andere Richtung gab. Nur ganz wenige Meister, vor allem Schobert und Chr. Bach, haben ihren Einfluß auf den jungen Mozart dauernd zu behaupten vermocht. Man kann daher von einer bestimmten Schule bei ihm nur sehr bedingt reden, er war eben immer der Schüler des Meisters, an dessen Kunst sich seine junge Seele gerade mit klammernden Organen festgesogen hatte.
Trotzdem wäre es sehr verhängnisvoll, wollte man in Mozarts Entwicklung ein chaotisches Spiel des Zufalls erblicken. Das Verbindende, Persönliche fehlt auch bei ihm so wenig wie bei irgendwelchem großen Künstler. Die Philistermethode, die das Wesen des Genies durch Zusammenzählen von "Einflüssen" errechnen will, ist hier weniger am Platze denn je. Auch Mozart hat nichts nachgeahmt, wozu er nicht vorher die Anlage in sich selbst getragen hätte, und wenn er sich zu diesem oder jenem Meister besonders hingezogen fühlte, so geschah dies aus der ihm selbst unbewußten Erkenntnis heraus, daß das betreffende Vorbild die eine oder andere Seite seines eigenen Wesens in besonderer Reinheit widerspiegelte. So sind alle jene Künstler zwar von außerordentlichem Einfluß auf ihn gewesen, aber weniger durch das, was sie ihm gaben, als durch das, was sie in seiner Seele aus dem Schlummer weckten und bekräftigten. Sein Wesen verlangte nach einer solchen Bekräftigung der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt, es drängte darnach, über die eigenen Bedürfnisse ins klare zu kommen, um nicht immer neuen Möglichkeiten preisgegeben zu sein. Goethe schreibt einmal mit Beziehung auf sich: "Wie sauer wird's dem Menschen, ohne Überlieferung, ohne Lehre zur rechten Zeit sich selbst zu finden und zu helfen."1 Dieses Wort hat sich auch an dem jungen Mozart bewahrheitet. Unendlich Vieles hat er in sich aufgenommen und nicht Weniges davon, genau wie der junge Goethe, später als mit seinem Wesen nicht vereinbar instinktiv wieder abgestoßen. In vielen seiner Jugendwerke hat er sich mit der Rolle des naiven Nachbildens begnügt, ohne jeden Anspruch auf besondere Originalität, und seine Entwicklung hat sich denn auch nicht in gerader Linie vollzogen, sondern ruckweise, in einzelnen Wellen, gleichwie das Meer viel Schlamm auswirft, bis es eine Perle zutage fördert.
An die Öffentlichkeit trat der junge Mozart zuerst mit Sonaten. Zwanzig Jahre früher wären es höchstwahrscheinlich noch Suiten gewesen. Denn damals hatte diese Form soeben mit S. Bach und Händel ihre klassische Blütezeit erreicht, neben der die von Joh. Kuhnau unter Anlehnung an die Violinsonate begründete Klaviersonate lange einen schweren Stand hatte. Zum Teil kam die Wendung aus der Suite selbst heraus. Während sich die Franzosen als eifrige Hüter der einzelnen Tanztypen und ihrer rhythmischen Eigenart erwiesen, strebten die Italiener mehr und mehr danach, diese Eigenart zugunsten eines subjektiveren Ausdrucks und glänzenderer Wirkung abzuschleifen und zu verflüchtigen, so daß schließlich an die Stelle der alten Allemanden, Couranten, Giguen usw. Charakterstücke allgemeiner Art traten, bei denen außer der zweiteiligen Form kaum noch etwas an den alten Tanzcharakter erinnerte. Den entscheidenden Vorstoß hat in dieser Hinsicht D. Scarlatti (1683–1757) in seinen "Essercizi" unternommen, der erste bedeutende Vertreter des modernen Geistes in der Klaviermusik des 18. Jahrhunderts2. Diese meist einsätzigen Stücke, die nach Inhalt und Form die Hand des Genies verraten, haben für den späteren ersten Sonatensatz die Grundzüge der beiden Formen festgestellt, die wir auch bei Mozart wiederfinden: die eine beginnt den zweiten Teil mit dem Hauptthema auf der Dominante und lenkt dann nach einer rein melodischen Durchführung in die zweite Hälfte des ersten Teils zurück, die andere aber wiederholt nach der Durchführung den ganzen ersten Teil, wenn auch in gedrängterer Form. Auch in Deutschland wandelte sich die Suite von der ursprünglichen Tanzform sehr bald zur rein musikalischen um. In S. Bachs "Deutschen Suiten" z.B. hat der Tiefsinn des Meisters die alte Gattung derart erweitert und vergeistigt, daß von Tanzstücken überhaupt kaum mehr gesprochen werden kann; sie beweisen nur, daß die Leistungsfähigkeit der Suite erschöpft war.
Das Erbe hat die Sonate angetreten; freilich hat es ziemlich lange gedauert, bis sie zu einer allgemein anerkannten, festen Form gelangte. Einen Weg dazu hatte Scarlatti in seinen zweisätzigen "Essercizi" gewiesen, einen andern, wichtigeren bot die dreisätzige Form des italienischen Konzertes. S. Bachs "Italienisches Konzert" und verwandte Werke haben auch der Klaviersonate neue Aussichten eröffnet3. Daneben aber trieb in Deutschland immer noch die viersätzige alte Kirchensonate ihr Wesen, allerdings mit allerhand Suitenhaftem stark vermischt4. Das ist ja überhaupt das Kennzeichen solcher Übergangszeiten: namentlich die kleineren Meister treten zwar für das Neue ein, wollen aber dabei doch, um des lieben Publikums willen, auf das bewährte Alte nicht verzichten. So hat die Klaviermusik lange Zeit von eigentümlichen Mischformen gelebt; ja nicht selten erscheint unter dem Namen Sonate eine unverfälschte Suite5. In anderen Fällen ist die Dreisätzigkeit der Sonate zwar erreicht, aber es wird als Zugeständnis an das Publikum zum Schluß noch einer der Lieblingstänze der Zeit, Menuett oder Polonäse, angehängt6. Namentlich das Menuett hat sich, wie in der Sinfonie, so auch in der Sonate als einziges Überbleibsel der alten Suite den Zutritt erzwungen; es taucht bald als Mittelsatz, noch häufiger aber als Schlußsatz auf. Es ist unter diesen Umständen kein Wunder, daß die Zahl der Sätze in diesen Sonaten von zwei bis zu einem halben Dutzend schwankt, und daß außer den genannten Formen auch noch andere damals gebräuchliche auftauchen7. Auch die Tonarteneinheit der Sätze wird unter dem Einfluß der Suite noch häufig festgehalten8.
Den ersten und folgenschwersten Versuch, in diesen Wirrwarr Ordnung zu bringen, unternahm Ph. Em. Bach, und zwar gleich mit seinen ersten gedruckten Sonaten, den "preußischen" (1742) und den "württembergischen" (1743). Er hat nicht allein die Dreisätzigkeit endgültig festgestellt, nicht allein, Scarlattis Anregung folgend, die "klassische" Dreiteiligkeit des ersten Satzes mit Themengruppe, Durchführung und Reprise begründet, sondern auch Wesen und Gedankengehalt der Sonate in andere Bahnen gelenkt. Das beliebte Schlagwort vom "galanten Stil" erschöpft nicht entfernt die Kunst dieses merkwürdigen Mannes, in dem sich Züge der Aufklärung alten Schlages mit dem Geiste von Sturm und Drang, ja der späteren Romantik beständig kreuzen9. Er ist in vielen Dingen sogar das gerade