Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
der deutschen Meister, auch nicht L. Mozarts. Den Beweis liefern die zweiten Teile, die meist gleich lang sind wie die ersten (in Nr. 26 sogar kürzer). Es fehlt besonders die volle Reprise, statt ihrer erscheint die Themengruppe verkürzt oder in stark zusammengedrängter Form wieder85. Die Durchführungen beginnen meist regelmäßig mit dem Hauptthema auf der Dominante86, dann folgt aber nur zu häufig ein freies Schalten mit allerhand neuen Gebilden, bis der Anschluß an den früheren Gedankenkreis wieder erreicht ist. Auch in den Themengruppen geht es noch bunt genug zu. Wir haben zwar für die Dreiteilung in Haupt-, Seitenthema und Schlußgruppe, wie sie z.B. in einfachster Form in Wagenseils Divertimenti op. 1–4 vorliegt, verschiedene Belege (Nr. 14, 15, 17), daneben aber Nr. 19, in deren Themengruppe der Knabe eine ganze Anzahl von Themen hineingepfropft hat. Man sieht deutlich, es war nicht die Lust an der Arbeit, an geordneter Gedankenfolge, die ihm die Feder führte, sondern die Freude am Stimmungswechsel und besonders an der eigenen Ideenfülle87. Das Vorbild Chr. Bachs ist in allen diesen Sätzen unverkennbar; es zeigt sich nicht allein in der Form, sondern auch in so manchen (in der Ausführung allerdings meist mißlungenen) revolutionären Zügen, wo der Knabe offenkundig nach einem besonders scharfen, im damaligen Sinne "modernen" Ausdruck strebt (Nr. 29). Auch an unmittelbaren Anklängen fehlt es nicht. So gehört der Anfang des Liedes Nr. 37
zu den Lieblingswendungen Bachs88 (vgl. auch Nr. 2).
Die Mehrzahl der Stücke war augenscheinlich für das Klavier bestimmt. Das geht aus ihrem ganzen Charakter (vgl. die beiden wohl in Erinnerung an den Vater geschriebenen Jagdstücke Nr. 4 und 27) und aus ihrer Technik hervor, die an Virtuosität das Notenbuch von 1762 zum Teil erheblich übertrifft89; dagegen sind die Albertischen Bässe hier so selten wie dort90. Andere Stücke aber weisen über das Klavier hinaus: Nr. 7 scheint für die Orgel bestimmt, bei Nr. 29 und 3591 handelt es sich anscheinend um Entwürfe zu Sinfonie-Andantes, bei Nr. 28 um ein Orchestermenuett.
So ist dieses Notenbuch, das uns ein glücklicher Zufall erhalten hat, das merkwürdigste Zeugnis aus Mozarts erster Periode. Wir sehen den Knaben an den verschiedensten Formen und Stilarten herumtasten und ältere und neuere Eindrücke verarbeiten; auch treten da und dort schon Züge des späteren Meisters hervor, zu denen namentlich das Sich-treiben-Lassen durch den eigenen Gedankenstrom gehört. Im allgemeinen aber handelt es sich bei diesen Stücken um alles eher als um ein "Wunder der Natur": mitunter gelingt dem Knaben kraft seines Talentes wohl ein Wurf, namentlich da, wo er in den Grenzen des Kindlichen bleibt, im großen und ganzen steckt er jedoch noch tief in den Lehrjahren, ja zum Teil sogar noch in grobem Dilettantismus drin.
Am 24. Juli 1765 verließen die Mozarts London, blieben einen Tag in Canterbury und hielten sich bis zum Ende des Monats auf dem Landgut Boure bei Horatio Man auf. Auf die wiederholten eifrigen Bitten des holländischen Gesandten, der den dringenden Wunsch der Prinzessin Caroline von Nassau-Weilburg aussprach, die Kinder zu hören, entschloß sich L. Mozart, nach dem Haag zu gehen, obgleich dies eigentlich nicht in seinem Plane lag92. Wahrscheinlich betont er diese dringende Einladung, um sein langes Ausbleiben dadurch zu entschuldigen. Sein Urlaub war längst abgelaufen, man drang wiederholt in ihn, seine Rückkehr zu beschleunigen, während er dagegen darauf bedacht war, was er mit Gott angefangen habe, auch mit dessen Hilfe durchzuführen. "Ich hoffe, es wird alles gut werden, wenn nur die Häftel davon kommen", schreibt er, "Gott verläßt keinen ehrlichen Teutschen93." Von Dover fuhren sie am 1. August bei günstigem Winde in 31/2 Stunden nach Calais, gingen von hier nach Dünkirchen, "wo sie alles Merkwürdige besahen" und von da nach Lille. Hier wurden Vater und Sohn von einer Krankheit befallen, die sie zu einem vierwöchigen Aufenthalte nötigte, und von der sie in Gent, wo Wolfgang auf der großen neuen Orgel in der Bernhardinerkirche spielte, noch nicht wieder völlig hergestellt waren. In Antwerpen spielte er auf der großen Orgel der Kathedrale. Von dort fuhren sie über Rotterdam nach dem Haag, langten um den 11. September daselbst an und kehrten in der Ville de Paris, einem schlechten, aber von Künstlern viel besuchten Gasthause ein. Sie fanden beim Prinzen von Oranien und seiner Schwester, der Prinzessin von Weilburg, die gnädigste Aufnahme94. Schon am 20. berichtete der "Leidener Courant" von der Anwesenheit des Knaben und dem Erfolge seines Spiels am Hofe des Statthalters. Das erste Konzert war am 30. September; auch hier war angekündigt worden, daß alle Ouvertüren (Sinfonien) von Wolfgangs Komposition sein würden, und es waren die Liebhaber aufgefordert worden, ihm nach Gefallen Musik vorzulegen, die er sogleich vom Blatt spielen werde95. Das Orchester bildeten Haager Musiker, von denen mehrere auch in dem von Leopold Mozart aufgestellten Verzeichnis der Personen genannt sind, mit denen sie in Berührung kamen. Dirigent war Christian Ernst Graf (Graaf), geboren 1723 in Rudolstadt; er ist der Komponist der Arie zur Installation des Statthalters, die Mozart variierte (K.-V. 24). Allein schon am 12. September war die Tochter von einer heftigen Krankheit befallen worden, an der sie wochenlang darniederlag; sie phantasierte heftig und wurde aufgegeben, so daß sie am 21. Oktober die Letzte Ölung erhielt. "Sollte jemand unsere Unterredung" schreibt der Vater96, "die wir drei, meine Frau, ich und meine Tochter, manchen Abend zusammen hatten, und wo wir dieselbe von der Eitelkeit dieser Welt, von dem glückseligen Tode der Kinder überzeuget, gehöret haben, der würde ohne nasse Augen es nicht angehöret haben, da inzwischen der Wolfgangl sich im anderen Zimmer mit seiner Musik unterhielt". Auch versäumten sie nicht, in Salzburg Messen für Marianne lesen zu lassen. Am Sonntag, da sie ganz schlecht war, las Leopold das Evangelium "Domine descende, Vater meine Tochter stirbt"; da begann Prof. Schwencke97, den die Prinzessin von Weilburg sandte, eine neue Kur, die so günstig verlief, daß ihn nach einiger Zeit das Sonntagsevangelium: "die Tochter schlief, dein Glaube hat dir geholfen" mit guter Zuversicht erfüllte. Kaum war der Vater von dieser Angst befreit, als seine Fassung auf eine noch härtere Probe gestellt wurde. Wolfgang wurde von einem hitzigen Fieber befallen, das ihn mehrere Wochen sehr elend machte. Bei der Krankenpflege leistete ein Pater Vincenzo Castiglione gute Dienste, der dreißig Jahre in England und Holland den Medikus gemacht hatte und sich nun auf L. Mozarts Zureden entschloß, wieder als Geistlicher in seine Heimat zurückzugehen. Auch die Krankheit konnte die geistige Regsamkeit des Knaben nicht lähmen. Man mußte ihm, da er noch das Bett hütete, ein Brett über das Lager legen, auf dem er schreiben konnte, und selbst als die kleinen Finger noch ihren Dienst versagten, ließ er sich nur mit Mühe vom Schreiben und Spielen abhalten. Im Januar 1766 entstand die für die Prinzessin bestimmte Sopranarie "Conservati fedele" (K.-V. 23, S. VI. 2, aus Metastasios "Artaserse"). Das zweite Konzert fand am 22. Januar statt und wurde in ähnlicher Weise wie das erste angekündigt. Aus der Anzeige geht hervor, daß die Familie inzwischen eine andere Wohnung bezogen hatte. Noch in demselben Monat konnten sie sich nach Amsterdam begeben, wo sie vier Wochen zubrachten. Wolfgang ließ sich in zwei Konzerten hören, in denen nur Instrumentalmusik von seiner Komposition aufgeführt wurde. Das erste war am 29. Januar 1766 und wurde in der Haarlemer und Amsterdamer Zeitung angezeigt98. Das zweite Konzert war am 26. Februar; in der Ankündigung heißt es u.a.: "ces deux Enfants Exécuteront non Seulement des Concerts sur différents clavecins, mais aussi sur le même à 4 Mains, et le Fils jouera à la Fin sur l'Orgue de ses Propres Caprices, des Fugues et d'Autres Pièces de la Musique la plus profonde"99. Zum Belege der Angabe, daß in den Konzerten nur Instrumentalmusik von Wolfgangs Komposition gespielt wurde, dient eine Sinfonie in B-Dur in drei Sätzen (K.-V. 22, S. VIII. 5), die noch im Haag fertig geworden war. Obgleich in den Fasten alle öffentlichen Vergnügungen streng verboten waren, erlaubte man doch diese Konzerte, "weil die Verbreitung der Wundergabe dieser Kinder zu Gottes Preis diente", – eine Begründung, die dem strengen Katholiken Leopold, wiewohl sie von Reformierten erlassen war, fromm und besonnen erschien100.
Von da riefen sie die Festlichkeiten bei der Installation des am 8. März 1766 volljährig gewordenen Prinzen von Oranien wieder in den Haag zurück. Wenn Leopold und Marianne den 11. März angeben, so war das wohl der Tag, an dem sie selbst bei Hofe waren101. Wolfgang war aufgefordert worden, sechs Sonaten für Klavier und Violine für die Prinzessin von Weilburg zu komponieren, die mit einer Dedikation gestochen wurden (K.-V. 26–31, S. XVIII. 11–16). Außerdem mußte er neben mehreren Arien für die Prinzessin andere "Kleinigkeiten"