Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
waren in diesen Kreisen, die, auf ihren Plutarch eingeschworen, das Heldentum der Unmoral besonders liebten, die lebendigen Beispiele nicht schwer zu suchen.
Wir wollen indessen über den Schäden dieser Gesellschaft auch ihre Vorzüge nicht vergessen, den freien Gedanken, die elegante Form, das Spiel des Geistes, des Witzes und des zarten Gefühls und endlich jenen berückenden Traum vom allgemeinen Menschenglück, dem wir in letzter Linie auch die "Zauberflöte" verdanken. Manche dieser Züge, besonders die eigentümliche Mischung daseinsfroher Ritterlichkeit und grüblerischen Sinnens, schlummerten bereits in Mozarts eigener Natur; jetzt traten sie ihm inmitten eines betäubenden Wirbels neuer Erscheinungen erstmals leibhaftig entgegen. Gewiß hat er nach der formalen Seite der Kunst in Paris unendlich viel gelernt, aber zum mindesten ebenso wichtig ist der Anteil, den dieser und namentlich der spätere Pariser Aufenthalt an der Entwicklung seiner Persönlichkeit gewonnen haben.
Sehr bezeichnend ist, was der Vater über seine ersten Pariser Eindrücke an die Gattin seines Freundes Hagenauer schreibt29:
Ob die Frauenzimmer in Paris schön sind, kann ich Ihnen mit Grund nicht sagen; denn sie sind wider alle Natur, wie die Berchtesgadner Docken, so gemahlt, daß auch eine von Natur schöne Person durch diese garstige Zierlichkeit den Augen eines ehrlichen Deutschen unerträglich wird. Was die Andacht anbelanget, so kann ich versichern, daß man gar keine Mühe haben wird die Wunderwerke der französischen Heiliginnen zu untersuchen; die größten Wunder wirken diejenigen, die weder Jungfern, weder Frauen noch Wittwen sind; und diese Wunder geschehen alle bei lebendigem Leibe ... genug! man hat Mühe genug hier zu unterscheiden, wer die Frau vom Hause ist. Jeder lebt wie er will und (wenn Gott nicht sonderheitl. gnädig ist) so gehet es dem Staat von Frankreich, wie dem ehemaligen Persischen Reiche ... Ich kann Sie versichern, daß man die schlechten Früchte des letzten Krieges ohne Augenglas aller Orten siehet. Denn den äußerlichen Pracht wollen die Franzosen im höchsten Grade fortführen, füglich sind niemand reich als die Pachter, die Herren sind voller Schulden. Der größte Reichtum steckt etwa unter hundert Personen, die sind einige große Banquiers und Fermiers généraux, und endlich das meiste Geld wird auf die Lucretien, die sich nicht selbst erstechen, verwendet ... Die Frauenzimmer tragen nicht nur im Winter die Kleider mit Pelz garniert, sondern sogar Halskresel oder Halsbindl und statt der Einsteckblüml alles dergleichen von Pelz gemacht in den Haaren, auch statt der Maschen an den Armen xx. Das Lächerlichste aber ist ein Degenband (welche hier Mode sind) mit feinem Pelz um und um ausgeschlagen zu sehen. Das wird gut sein, daß der Degen nicht eingefriert. Zu dieser ihrer närrischen Mode in allen Sachen kommt noch die große Liebe zur Bequemlichkeit, welche verursachet daß diese Nation auch die Stimme der Natur nicht mehr höret, und deßwegen gibt jedermann in Paris die neugeborenen Kinder aufs Land zur Aufziehung. Es sind eigens geschworne sogenannte Führerinnen, die solche Kinder auf das Land führen, jede hat ein großes Buch dahinein Vatter und Mutter x: dann am Orte wo das Kind hingebracht wird der Name der Amme, oder besser zu sagen, des Bauern und seines Weibs von dem Parocho loci eingeschrieben wird. Und das tun Hohe und niederen Stands Personen und man zahlt ein bagatelle. Man sieht aber auch die erbärmlichsten Folgen davon; Sie werden nicht bald einen Ort finden, der mit so vielen elenden und gestümmelten Personen angefüllet ist ...
Nach ihrer Ankunft stiegen die Mozarts bei dem bayrischen Gesandten von Eyck ab, dessen Gemahlin eine Tochter des Salzburger Oberstkämmerers Grafen Arco war, im Hotel Beauvais in der Rue St. Antoine30. Der reiche Vorrat vornehmer und diplomatischer Empfehlungen, den sie mitgebracht hatten, blieb ohne Wirkung, mit einziger Ausnahme eines Briefes an Grimm, den ihnen eine Frankfurter Kaufmannsfrau mitgegeben hatte. Friedrich Melch. Grimm (geb. 1723 zu Regensburg) hatte als Student in Leipzig zu den Füßen Ernestis und namentlich Gottscheds gesessen, den er glühend verehrte31, und war dann 1748 nach Paris übergesiedelt, wo er als Sekretär des Grafen Friesen und dann des Herzogs von Orleans bald Zutritt in den maßgebenden Kreisen fand. Entscheidend wurde für ihn seine Bekanntschaft mit Rousseau, Diderot, D'Alembert und anderen Mitarbeitern an der Enzyklopädie, an der er sich ebenfalls beteiligt hat. Kein Wunder, daß er sich unter diesem Einfluß zu einem der nachdrücklichsten Verfechter der italienischen Oper gegenüber der französischen entwickelte. Schon 1752 veröffentlichte er im "Mercure de France" über Destouches' "Omphale" eine vernichtende Kritik, ließ ihr dann 1753 in seiner "Vision du petit prophéte de Boehmisch-Broda" eine Satire desselben Geistes folgen und begründete gleich darauf mit Raynal und Meister die "Correspondance littéraire, philosophique et critique", die seinen, als des Hauptverfassers Namen auf immer mit der Kulturgeschichte des ancien régime verknüpft hat. Für die Musik der Jahre 1747–1790 ist diese für den Hof und die Gesellschaft bestimmte Zeitschrift eine Quelle ersten Ranges32. Daß sie trotzdem mit Vorsicht zu benützen ist, liegt an der Persönlichkeit ihres Verfassers. Denn Grimm war weder musikalisch genügend geschult, um der Kunst, die er schilderte, gerecht zu werden, noch war er überhaupt der Mann, der sich um der Wahrheit willen einen sprühenden Witz oder eine schillernde Redeblüte hätte entgehen lassen. Er war überhaupt der richtige Journalist für die Pariser Gesellschaft: stets vorzüglich auf dem Laufenden über alles, was sie von der hohen Politik an bis zum schmutzigen Klatsch herab bewegte, ein nicht minder guter Kenner ihrer Anschauungen und ihres Geschmacks und endlich ein Darsteller von treffendem Witz und nie versagender Gewandtheit. Nach der damaligen Sitte des gegenseitigen Verhimmelns hat ihn daraufhin Sainte Beuve den "Klassiker der Kritik" genannt.
Das Außerordentliche, noch nie Dagewesene war es denn auch, was ihn veranlaßte, die deutschen Wunderkinder unter seinen Schutz zu nehmen. Selbst Leopold ließ diesem "großen Freunde", dem "gelehrten Mann und großen Menschenfreunde" gegenüber das gewohnte Mißtrauen fahren. "Er hat die Sache nach Hofe gebracht; er hat das erste Conzert besorget ... und wird auch das zweite besorgen ... Sehen Sie was ein Mensch kann, der Vernunft und ein gutes Herz hat ... er ist schon über 15 Jahre in Paris und weiß Alles auf die rechte Straße so einzuleiten, daß es, so wie er will, ausfallen muß"33. Ja selbst in seinen Kunstanschauungen ließ sich der sonst so kritische Mann von Grimm vollständig ins Schlepptau nehmen. "Die ganze franz. Musik ist keinen T – – wert", schreibt er an Frau Hagenauer34, "man fängt nun aber an grausam abzuändern und es wird in 10 bis 15 Jahren der französische Geschmack, wie ich hoffe, völlig erlöschen".
Zunächst war ihr Augenmerk auch hier darauf gerichtet, sich bei Hofe hören zu lassen. Am Weihnachtsabend, dem 24. Dezember, kamen sie nach Versailles, und blieben dort 14 Tage (Brief des Vaters vom 1. Februar 1764). Der ausführliche Bericht über die Vorstellung in Versailles, den L. Mozart dem Erzbischof selbst erstattete, ist leider nicht mehr vorhanden. Die wichtigste Person war natürlich die Marquise von Pompadour. "Sie muß recht gar schön gewesen sein", schreibt L. Mozart an Frau Hagenauer, "denn sie ist noch sauber. Sie ist großer, ansehnlicher Person, sie ist fett, wohl bey Leib, aber sehr proportioniert, blond, hat vieles von der ehemaligen Freysauf Tresel35 und in den Augen einige Ähnlichkeit mit der Kaiserin Majestät. Sie gibt sich viele Ehre und hat einen ungemeinen Geist." Sie ließ, wie Mozarts Schwester sich noch später erinnerte, den kleinen Wolfgang vor sich auf den Tisch stellen, wehrte ihn aber, als er sich gegen sie neigte, um sie zu küssen, ab, so daß er entrüstet fragte: "Wer ist denn die da, daß sie mich nicht küssen will? hat mich doch die Kaiserin geküßt."36 Freundlicher waren die Töchter des Königs, welche gegen alle Etikette nicht nur in ihren Zimmern, sondern in der öffentlichen Passage sich mit den Kindern unterhielten, sie küßten und sich von ihnen die Hände küssen ließen. Am Neujahrstage bei der Abendtafel wurde die Familie Mozart durch die Schweizer in den Saal an die königliche Tafel geführt; Wolfgang mußte unmittelbar neben der Königin stehen, die ihm von den Leckerbissen mitteilte und sich mit ihm deutsch unterhielt, was sie dann Ludwig XV., der natürlich kein Deutsch verstand, übersetzen mußte. Neben Wolfgang stand der Vater, auf der andern Seite des Königs, neben dem Dauphin und Mme. Adelaide, die Mutter mit der Tochter. Auch erhielt der Knabe Gelegenheit, in der Hofkapelle im Beisein des Hofes die Orgel zu spielen, was ihm gleichen Beifall einbrachte37. Als sie erst in Versailles gespielt hatten, fanden sie auch in allen vornehmen Zirkeln Zutritt und Bewunderung. Ein kleines Ölgemälde, jetzt im Museum des Louvre, stellt den kleinen Wolfgang am Klavier im Salon des Prinzen Conti inmitten einer großen Gesellschaft vornehmer Herren und Damen