Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Über alles übrige, besonders auch über seine Beziehungen zur Literatur des Auslandes, wird noch in einem späteren Zusammenhang zu reden sein.
Für seine musikalische Weiterbildung in Salzburg, der sich der Vater mit gewohnter Gründlichkeit unterzog, kommt vor allem ein Arbeitsheft in Frage, das jetzt im Mozartarchiv aufbewahrt wird8 und mit ziemlicher Sicherheit aus dieser Zeit stammt. Das 82 Seiten starke Heft umfaßt vier Teile, deren jeder für sich von Wolfgang durchnumeriert ist9. Das Ganze enthält nicht, wie Jahn und noch Deiters annahmen10, Übungen im Generalbaß, sondern im strengen Kontrapunkt; vor dem Ende des letzten Abschnitts über den dreistimmigen Kontrapunkt brechen die Studien ab, wohl infolge des Antritts der neuen Reise. Das Heft beweist somit deutlich, daß L. Mozart die damalige Hauptlücke in des Sohnes musikalischer Bildung11 wohl erkannt hat. Zugrunde gelegt wurde den Studien das Hauptlehrbuch jener Zeit, der "Gradus ad Parnassum" von Joh. Jos. Fux (1725), aber in der deutschen Übersetzung von L. Mizler (1742), wie aus dem Hinweis auf S. 56 des "Buches" und auf die im Original nicht erwähnten Intervalle der vergrößerten Sekunde und der vergrößerten und verkleinerten Terz hervorgeht. Das Heft ist von Vater und Sohn zusammen geschrieben, und zwar beginnt bei jeder neuen Gattung der Vater gewöhnlich mit den Regeln samt Beispielen, dann läßt er ein Musterbeispiel folgen, das der Sohn nachzuahmen hat. Wolfgangs mit zahlreichen Verbesserungen versehene Aufgaben bekunden zur Genüge, wie unsicher er sich noch damals auf diesem neuen Boden fühlte; auch der Galgenhumor, der ihn einmal die Stimmen als Sign. d'Alto, marchese Tenore, duca Basso bezeichnen läßt, vermag daran nichts zu ändern.
Behandelt werden nur der zwei- und dreistimmige Kontrapunkt, und zwar auf Grund von großenteils aus Fux stammenden Cantus firmi in Kirchentonarten. Die Intervalle, die die kontrapunktierende Stimme mit dem Cantus firmus bildet, sind durch Ziffern bezeichnet; sie haben den Anlaß zu der falschen Annahme einer Generalbaßlehre gegeben. Die dreistimmigen Kontrapunktübungen sind auf drei Liniensystemen geschrieben. Behandelt werden in beiden Arten sämtliche Gattungen bis zum "Contrapunctus cum ligaturis" und "floridus"12.
So war Mozarts theoretische Ausbildung durch diese Studien zwar noch lange nicht vollendet, aber doch um ein gutes Stück gefördert worden. Der Erfolg zeigt sich in den noch vorhandenen Werken aus dieser Zeit.
Als Komponist wurde der Knabe schon bald nach seiner Rückkehr in Anspruch genommen; zum Jahrestag der Konsekration des Erzbischofs (21. Dez. 1766) komponierte er die "Licenza", d.h. die Huldigungsmusik, die der eigentlichen Festlichkeit angehängt wurde13. Für den Hof scheinen auch noch andere, verlorengegangene Kompositionen bestimmt gewesen zu sein, die der Vater in seinem Verzeichnis in dieses Jahr setzt: 6 vierstimmige Divertimenti für verschiedene Instrumente, 6 Trios für 2 Geigen und Cello, Märsche und Menuette für Orchester sowie Fanfarenstücke für Trompeten und Pauken.
Der Erzbischof, der zuerst an die Wunder des Knaben nicht glauben mochte, ließ ihn, wie Barrington erzählt, eine Woche lang bei sich einschließen, ohne daß er jemand sehen durfte; in dieser Abgeschlossenheit mußte er ein Oratorium komponieren, zu dem er ihm den Text gegeben hatte. Wolfgang vollendete auch so seine Komposition und erhielt bei der öffentlichen Aufführung allgemeinen Beifall.
Das Oratorium (K.-V. 35, S.V. 1 mit Wüllners R.-B.), das am 12. März 1767 am Hofe aufgeführt wurde, ist in Salzburg 1767 gedruckt unter dem Titel:
Die Schuldigkeit des ersten und fürnehmsten Gebottes Marc. 12 V. 30 Du sollst den Herrn, Deinen Gott lieben von ganzem Deinem Herzen, von Deiner ganzen Seel, von Deinem ganzen Gemüth, und aus allen Deinen Kräften. In dreyen Theilen zur Erwegung vorgestellt von J.A.W.14
Erster Theil in Musik gebracht von Herrn Wolfgang Motzart, alt 10 Jahr.
Zweyter Theil von Herrn Johann Michael Heiden, Hochfürstl. Conzertmeistern.
Dritter Theil von Herrn Anton Cajetan Adlgasser, Hochfürstl. Kammer-Componist- und -Organisten. –
Das Ort der Vorstellung ist eine anmüthige Gegend an einem Garten und kleinen Wald. Singende:
Ein Lauer und hienach eifriger Christ: Herr Joseph Meisner, –
Der Christengeist: Herr Anton Franz Spitzeder, –
Der Welt-Geist: Jungfer Marie Anna Fesemayrin, –
Die göttliche Barmherzigkeit: Jungfer Maria Magdalena Lippin, –
Die göttliche Gerechtigkeit: Jungfer Marie Anna Braunhoferin.
Nach dem Vorbericht gab die Erwägung, "daß kein gefährlicherer Seelenzustand sei, als die Lauigkeit in dem Geschäfte des Heils", Veranlassung zu der musikalischen Vorstellung, "wodurch man zwar nicht bloß die Sinne zu ergötzen, sondern das Gemüt nützlich zu unterhalten gedachte".
"In dem ersten Teil wird die Gedächtnuß und der Verstand desselben (des lauen Christen) durch den unermüdeten und liebesvollen Eifer des Christlichen Tugendgeistes unter dem Beistand Göttlicher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit beschäftiget; in dem zweiten Teil der Verstand besieget, nicht weniger auch der Wille zur Ergebung bereit gemacht und endlichen dieser in dem dritten Teil von der ihme noch anklebenden Forcht und Wankelmuth vollkommen befreyet und gewonnen."
Die Ausführung in Versen, reichlich mit lateinischen Bibelsprüchen nach damaliger Sitte durchsetzt, hat ganz den prosaisch-bombastischen Charakter jener Zeit, wie einzelne Belege zur Genüge zeigen werden.
Mozarts Originalpartitur15 hat den von des Vaters Hand geschriebenen Titel "Oratorium di Wolfgango Mozart composto nel mese di Marzo 1766". Da sie damals noch in den Niederlanden waren, ist wohl ein Irrtum anzunehmen. Wahrscheinlich ist die Komposition Ende 1766 begonnen und im März 1767 vollendet worden; auf dem Textbuch wird Wolfgang als "alt 10 Jahre" bezeichnet. Am 2. April wurde das Oratorium wiederholt16.
Die Partitur, die 208 Seiten füllt, trägt in der unsicheren, mit ausgewischten Tintenflecken reichlich verzierten Notenschrift, in mancherlei Ungenauigkeiten der Notierung und Bezeichnung, sowie in dem mühsam in salzburgischer Orthographie gekritzelten Text der Arien – denn den langen Rezitativen hat die Hand des Vaters die Worte untergelegt – die unverkennbaren Züge der Knabenarbeit. Die Aufgabe war nicht leicht: Mozart hatte sich nicht allein erstmals auf dem Gebiet der Gesangsmusik hohen Stils zu versuchen, sondern auch die Ansprüche einer langjährigen Tradition zu befriedigen. Kein Wunder, wenn er sich angelegentlich nach Vorbildern umsah; er fand sie in seinem Vater und in dem 1762 verstorbenen Salzburger Kapellmeister Joh. Ernst Eberlin. Von L. Mozarts "Oratorien" ist außer zwei Arien leider nichts mehr erhalten, aber diese beiden Stücke decken sich mit denen des Sohnes nicht nur in der Form17, sondern auch in dem bei beiden ganz italienisch gefärbten Ausdruck, in dem Streben nach sorgfältiger Wiedergabe des Textes und der sinngemäßen Verwendung der Koloratur. Von Eberlin sind uns dagegen zwölf vollständige Oratorien erhalten18, die ihn als einen der bedeutendsten deutschen Vertreter der Gattung in damaliger Zeit erkennen lassen und die Legende von dem hinterwäldlerischen Charakter der Salzburger Musik zu Mozarts Zeiten gründlich zerstören. Eberlin war ein fortschrittlicher Künstler, der den herrschenden italienischen Stil mit deutschen Elementen zu durchdringen suchte und außerdem ein eigenes bedeutendes Talent in die Waagschale zu werfen hatte19. Er ist denn auch Mozarts hauptsächlichstes Vorbild gewesen, nicht allein dem Geiste nach, sondern bis in einzelne Ausdrucksmittel, ja selbst Themenanklänge hinein20. Von ihm stammt der Gedanke, dem Ganzen eine einsätzige Sinfonie voranzuschicken, während ihre Ausführung noch an Chr. Bach erinnert, von ihm auch die sorgfältige Behandlung der begleiteten und unbegleiteten Rezitative. Das ist um so bemerkenswerter, als Mozart später unter italienischem Einfluß das Secco im Ausdruck immer lässiger ausführt. Hier herrscht bei ihm noch ausgesprochen deutscher Geist, der sich ja seit alters gerade dieser Partien besonders angenommen hatte. Mozart deklamiert nicht allein gut und mit innerer Anteilnahme, er wählt auch seine Harmonien durchschnittlich dem Gange der Reden entsprechend, ja er macht sogar einzelne Versuche, die verschiedenen Personen zu charakterisieren.