Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
seinen Feind, den Christgeist21:
An besonderen Höhepunkten des Textes tritt begleitetes Rezitativ ein, hier ist der Ausdruck der Sitte der Zeit gemäß bis zur Übertreibung gesteigert. So entwirft z.B. der Christgeist folgendes Bild des "offenen Höllengrundes", das vorher schon als Seccorezitativ hingeschrieben war:
Ganz realistisch ist das begleitete Rezitativ des Christen, der sich aus schwerem Schlummer emporräkelt:
und dann alle Schauer von Tod und Gericht zu fühlen bekommt; wie Geisterklänge ziehen hier sogar noch Motive aus der vorhergehenden Arie der Gerechtigkeit (pp con sordini und mit hinzugefügter Posaunenfanfare) an seinem Ohr vorüber22.
Den musikalischen Hauptteil bilden natürlich die Arien, drei für Tenor und vier für Sopran. Sie haben die ältere Form: zweiteiliger Hauptsatz, Mittelsatz auf einen neuen Text und da capo des Hauptsatzes. Der Mittelsatz bringt gern Takt- und Tempowechsel23; nur Nr. 7 hat keinen Mittelsatz, bringt aber den Tempowechsel dafür im Hauptsatz. Ein modernerer Zug ist die Neigung, in den Anfangsritornellen Haupt- und Seitenthema durch scharfe Schlüsse voneinander zu trennen: das hatte Mozart bei Chr. Bach gelernt. Die ganze Haltung der Arien ist unverfälscht italienisch, bis in die im ganzen mit Maß und Überlegung angebrachten Koloraturen hinein, bei denen der Vater meistens nachgeholfen hat. Aber staunenswert ist die Sicherheit, mit der sich Mozart schon hier in diesem Rahmen zu bewegen weiß; auch sind ihm einige zwar nicht durch Originalität, aber durch Echtheit der Empfindung ausgezeichnete Stimmungsbilder gelungen, so die Arie Nr. 8 "Manches Übel will zuweilen" mit ihrem warmen und innigen Zuspruch24. Auch Nr. 1 "Mit Jammer muß ich schauen" verdient wegen des im ersten Teil zäh festgehaltenen Schmerzenstones Erwähnung, nicht minder Nr. 4 "Hat der Schöpfer dieses Leben" mit dem Händelschen Thema. Diese Figur des "Weltgeistes" zeigt überhaupt Ansätze einer bestimmten Charakteristik: er hat bei aller bösen Weltlust doch etwas Flottes, fast Kavalierhaftes und entbehrt auch sarkastischer Züge nicht25. Das Schlußterzett ist nichts anderes als eine von drei Stimmen gesungene Arie, gefällig und mit leichter imitatorischer Führung. Auch das Orchester dient den Zwecken der Charakteristik: der Christ hat in seiner Arie "Jener Donnerworte" (Nr. 6) eine konzertierende Altposaune, als Stimme des Gerichts, sein Verführer, der Weltgeist, in der Arie "Schildre einen Philosophen" (Nr. 7) zwei Flöten. Die Arie "Ein ergrimmter Löwe brüllet" (Nr. 2) ist durch konzertierende Bläser und die selbständige tonmalerische Figur der zweiten Geigen, das Rezitativ "Wie, wer erwecket mich?" durch die nach Wiener Art in Oktaven mit den Geigen gehenden Bratschen ausgezeichnet, wie überhaupt die Teilung der Bratschen im ganzen Stück eine große Rolle spielt. Man sieht, der Knabe wollte sich auch in dieser Hinsicht auf der vollen Höhe der Zeit zeigen.
Ungefähr dasselbe Bild gewährt eine kleinere zweistimmige Kantate mit dem einfachen Titel Grab-Musik (1767), die offenbar gleichfalls für die Fastenzeit bestimmt war (K.-V. 42, S. IV. 1). Es ist ein Gespräch zwischen der Seele (Baß) und einem Engel (Sopran) und kennzeichnet sich somit als Absenker der alten Gattung des geistlichen Dialogs; der Text klingt ganz nach einem Salzburger Lokalpoeten. Das Stück beginnt ohne weitere Einleitung mit einem Rezitativ der Seele:
Wo bin ich? bittrer Schmerz!
ach jener Sitz der Liebe,
mein Ruh, mein Trost, das Ziel all meiner Triebe,
und meines Jesu göttlichs Herz,
das reget sich nicht mehr,
und ist vom Blut und Leben leer.
Was für ein herbes Eisen
konnt dieses süßeste und allerliebste Herz zerreißen?
worauf die Arie folgt:
Felsen, spaltet euren Rachen,
trauert durch ein kläglichs Krachen,
Sterne, Mond und Sonne flieht,
traur, Natur, ich traure mit.
Brüllt, ihr Donner, Blitz und Flammen,
schlaget über dem zusammen,
der durch die verruchte Tat
dieses Herz verwundet hat.
Die Musik zu dieser Arie segelt fröhlich im Fahrwasser der damaligen neapolitanischen Kulissenreißerei; keines ihrer Merkmale, lärmende Fanfarenmelodik mit ungeheuren Intervallen, schweifendes Koloraturengepränge und aufdringliche Orchestermalerei, wird dem Hörer erlassen. Der Mittelsatz, der von d-Moll über Es- und H-Dur schließlich nach e-Moll gelangt, ist ein wahres Musterbeispiel für die oft ganz planlose Harmonik dieser Teile. Bemerkenswert ist außer der fühlbaren Anlehnung an ein Arienthema des Vaters26 und außer der nach Chr. Bachs Art mit den schärfsten Gegensätzen arbeitenden Dynamik auch der Umstand, daß Mozart hier erstmals, einem neueren Typus folgend, das da capo um die Hälfte verkürzt27. Die folgende Sopranarie "Betracht dies Herz" trägt vollends nicht nur in ihrer knappen zweiteiligen Form, sondern auch in ihrer Melodik die Züge des deutschen Liedes. Die Wahl der Tonart g-Moll stammt übrigens, um dies hier gleich ein für alle Male zu bemerken, nicht von Mozart, sondern aus der italienischen Oper, wo sie die ständige Tonart der Trauer und des Schmerzes ist. Mozart aber schlägt bereits hier, besonders mit Hilfe einer charaktervolleren Harmonik, jenen herberen Ton verhaltener Leidenschaft an, der seine g-Moll-Klagen von der weichen Empfindsamkeit der italienischen unterscheidet. Wie echt sind nicht gleich im Ritornell die phrygische Wendung des dritten und vierten Taktes und der drängende Quintschluß empfunden! Und wie schön die Erweiterung der Schlußwendung zu einer schmerzensreichen Adagio-Coda, unter dem Einfluß der Worte: "ergib dich, hartes Herz, zerfließ in Reu und Schmerz!" Einem ausdrucksvollen Accompagnato, das sich auf einem und demselben Orchestermotiv aufbaut, schließt sich das Duett der beiden Stimmen an. Seine Form ist zweiteilig, die Stimmen setzen nach italienischem Brauche zuerst nacheinander ein und vereinigen sich dann später in Terzen und Sexten; Imitationen treten hier, wie in der "Schuldigkeit", nur sehr bescheiden auf. Der Ausdruck ist weich und natürlich, ohne Sentimentalität, bis auf einige modische Spielereien:
Für eine spätere Aufführung, wohl um die Mitte der siebziger Jahre28, fügte Mozart noch einen durch ein kleines Rezitativ eingeleiteten Schlußchor hinzu, ein dreiteiliges homophones Stück, das bei allem Wohlklang doch einen sehr eindringlichen Gebetston anschlägt. Mozarts letzter Beitrag zur Passionsmusik war die ebenfalls aus den siebziger Jahren29 stammende, nicht eben hervorragende Arie "Kommet her, ihr frechen Sünder" (K.-V. 146, S. VI. 10).
Eine weniger bedeutende, jedenfalls dem Oratorium und der Grabmusik erheblich nachstehende Komposition ist das Offertorium "Scande coeli limina" (K.-V. 34, S. III. 17) auf das Fest des hl. Benedikt (21. März), das Mozart gleich nach der Rückkehr für die seiner Familie befreundeten Mönche des Klosters Seeon schrieb30. Die Sopranarie gemahnt fühlbar an den Stil der Pariser Opéra comique31. Der folgende vierstimmige Chor läßt mit seiner steifen und trockenen Stimmführung abermals die Lücken in Mozarts damaligem kontrapunktischen Können erkennen. Dagegen gehört das Offertorium "Inter natos mulierum" (K.-V. 72, S. III. 18), das die Tradition ebenfalls mit dem Kloster Seeon in Verbindung bringt, seinem ganzen Stil nach einer späteren Zeit