GRAHAMS WIDERSTAND (Survivor 3). A.R. Shaw

GRAHAMS WIDERSTAND (Survivor 3) - A.R. Shaw


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lenkte sofort ab: »Du kannst einfach bei Clarisse bleiben. Schön, dass ihr heute hier seid.« Als sie aufstand, ließ die Bewegung Addy den Kopf heben. Das strahlende Lächeln des Mädchens zeigte, dass auch sie sich freute, sie zu sehen. Sie ging sofort zu Graham und Tala hinüber und umarmte beide.

      Tala gebärdete: Hallo! Was liest du gerade?

      Addy hob ihre kleinen Hände und signalisierte einfach nur Buch, hielt dann inne und wirkte etwas ratlos. Sie machte einen Schritt zurück und warf Clarisse einen fragenden Blick zu, wie man Über die Anatomie des Menschen in Zeichensprache ausdrückte.

      Graham bewunderte das Mädchen; sie hatte so viel durchgemacht und zeigte dennoch erstaunliche Widerstandskraft. Vor zwei Monaten hatte das gefürchtete Virus, das schon so viele Leben gefordert hatte, beinahe auch Addy geholt. Aber Clarisse hatte mit allen Mitteln dagegen gekämpft und das Mädchen aus der Todeszone zurückgeholt, obwohl sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob das Virus sich nicht doch irgendwann wieder in einer Krankheit manifestieren würde. Addy war jetzt fast acht Jahre alt und eignete sich bereits Wissen und Fähigkeiten an, die weit über das hinausgingen, was Kinder in ihrem Alter üblicherweise lernten. Ihre Taubheit behinderte den Freigeist des Mädchens kein bisschen.

      Sogar ihr Vater, Sam, wies jeden zurecht, der Addy zu verhätscheln oder es ihr einfach zu machen versuchte. Ganz im Gegenteil, er ermutigte sie stets, dazuzulernen und mit ihrer Behinderung umzugehen. Jeden Tag nahm er sie mit in den Wald und brachte ihr bei, wie sich an den Vibrationen der Umgebung wahrnehmen ließ, was um einen herum geschah. So zeigte eine leichte aufkommende Brise, die durch die Bäume strich, dass jemand oder etwas in ihrer Nähe vorbeigegangen war. Ein Zittern des Bodens, das sie durch die Sohlen ihrer Stiefel in der Nähe des Skagit Rivers spüren konnte, bedeutete, dass der Fluss durch die zunehmende Schneeschmelze mehr Wasser führte als am Tag zuvor.

      Graham wusste, dass Sam alles versuchte, um seine Tochter auf ein Leben ohne den Hörsinn und auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten. Graham hatte noch niemals zuvor eine solche Hingabe bei einem Vater gesehen und hoffte, es dem Mann später mit seinen eigenen Kindern gleichtun zu können.

      »Ihr seid also für die gute alte Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft hier? Wie absurd sich das anhört …«, sagte Clarisse zu Tala.

      »So ist es«, erwiderte Tala. »Das Baby hat mich in letzter Zeit ganz schön getreten.«

      »Das sind gute Neuigkeiten«, meinte Clarisse und führte sie in den Untersuchungsraum neben ihrem Büro.

      Graham half Tala, auf den Tisch zu klettern, den Clarisse für sie vorbereitet hatte und sich dann zurückzulehnen.

      »Wir hören uns zuerst mal, mit diesem speziellen Doppler-Stethoskop hier, den Herzschlag an. Damit kann ich den Herzschlag des Babys viel besser wahrnehmen als mit einem normalen Stethoskop«, erklärte Clarisse, während sie den Kopf des Stethoskops auf dem Ultraschallgel platzierte, das sie auf Talas Bauch aufgetragen hatte. Sofort ertönte ein starkes Rauschen. Behutsam schob sie die Membran langsam hin und her, bis ein starkes Klopfen zu hören war. Graham lächelte, er konnte nicht anders. Sein Blick traf Talas und er dachte: Dieser Moment ist der glücklichste, den wir je hatten, seit all dieser Irrsinn geschehen ist.

      Graham erinnerte sich plötzlich daran, wie er diese Situation schon einmal erlebt hatte, mit seiner ersten Frau. Doch er schob die Erinnerung so schnell, wie er konnte von sich. Nicht jetzt. Denn zusammen mit der Erinnerung kam auch der Schmerz und ein seltsames Gefühl des Verrats, obwohl er genau wusste, dass Nelly es verstehen würde.

      Er drehte den Kopf und sah, dass Addy an den Türrahmen gelehnt dastand; Clarisse sah sie auch. »Macht es euch etwas aus, wenn sie zuhört? Ich meine, wenn sie dabei ist«, sagte sie sich schnell fangend und zwinkerte Tala zu. »Sie ist immerhin meine offizielle Stellvertreterin.«

      »Natürlich nicht«, antwortete Tala, und Clarisse bedeutete Addy daraufhin, zu ihnen zu kommen.

      Clarisse legte das Doppler-Stethoskop in Addys Hände, signalisierte ihr die Augen zu schließen und sich auf die Vibrationen zu konzentrieren, die durch das Stethoskop kamen. Graham war erst verwirrt von dieser Geste, aber als Addys Gesichtsausdruck von kontemplativ zu einem strahlenden Lächeln wechselte, verstand er das Ganze. Mithilfe des vibrierenden Geräts in ihren Händen konnte sie den Herzschlag spüren.

      »Sie kann die Vibrationen fühlen?«, fragte Graham. Es hatte ihn sehr bewegt, den Herzschlag seines eigenen Kindes zu hören, aber noch mehr berührte es ihn, dass Addy an dieser Erfahrung teilhaben konnte. Eine Erfahrung, von der er gedacht hatte, dass sie Addy vollkommen verloren gehen würde. Sie konnte den Herzschlag des Babys spüren!

      Addys Lächeln war so ansteckend, dass auch Graham sich davon mitreißen ließ. Er bemerkte, dass auch Tala sich unauffällig ihre eigenen Tränen des Glücks aus den Augenwinkeln wischte. Addy gebärdete schnell und stark zu Tala, gab das Gerät dann zurück an Clarisse und legte ihre Hand auf Talas Bauch, in der Hoffnung, dort das gleiche Vibrieren fühlen zu können.

      Clarisse sprach nun mit ihnen, während Addy weiter mit der Hand Talas Bauch befühlte.

      »Der Herzschlag des Babys ist perfekt für diese Phase der Schwangerschaft. Hast du irgendwelche Schmerzen oder kleinere Wehen?«

      »Nein, weder noch.«

      »Gut. Ich würde jetzt gern eine Blutprobe nehmen und einige Tests durchführen. Du solltest weiterhin die Vitamine einnehmen und nur das tun, wobei du ein sicheres Gefühl hast, und bitte keine anstrengenden Bewegungen.«

      Graham ging ein Gedanke nicht aus dem Kopf, doch er wollte eigentlich nicht danach fragen, konnte aber nicht anders. »Haben wir eine Möglichkeit, schon jetzt zu erkennen, ob das Baby das Virus in sich trägt?«

      »Ich fürchte, nein. Wir müssen abwarten. Aber es gibt noch etwas, das ich euch unbedingt sagen sollte«, holte Clarisse aus und hielt in Erwartung ihrer Reaktionen unwillkürlich die Luft an.

      Graham gefiel das ganz und gar nicht. »Was? Was ist das Problem?«

      »Ich habe noch nie dabei geholfen, ein Baby zur Welt zu bringen.«

      Graham riss die Augen auf und Clarisse legte sofort eine Hand auf sein Knie, um ihn zu beruhigen.

      »Ich habe meinen Teil an Operationen durchgeführt. Was Geburten angeht, habe ich zumindest alles gesehen. Das heißt, ich bin mit allen Komplikationen vertraut und sehr zuversichtlich, dass ich es kann, aber ich habe es eben noch nie selbst gemacht.«

      »Okay, das macht mich jetzt in der Tat verdammt nervös«, brachte Graham mühsam hervor, während sein Herzschlag rapide anstieg.

      Tala versuchte ihn zu beruhigen. »Ich bin mir sicher, dass Clarisse es gut machen wird, Graham.«

      Addy hatte Talas Bauch wieder bedeckt, nachdem sie das Gel sorgfältig abgewischt hatte. Graham sah, wie Tala dem Kind in Gebärdensprache sagt: Du wirst eine wunderbare Ärztin werden.

      Dem konnte er nur zustimmen.

      Danke, gab Addy zurück, dann huschte sie davon, um sich wieder ihrem Buch zu widmen.

      Graham fragte Clarisse: »Ist es ihr am Anfang sehr schwergefallen, nichts mehr hören zu können? Jetzt wirkt es so selbstverständlich für sie …«

      »Oh ja. Sam und ich haben uns fast drei Tage am Stück um ein am Boden zerstörtes kleines Mädchen gekümmert. Wir haben in dieser Zeit keine Minute geschlafen und waren rund um die Uhr bei ihr. Am vierten Tag schien sie den Schmerz über den Verlust ihres Hörvermögens einfach hinter sich gelassen zu haben. Ich habe daraufhin angefangen, ihr die Gebärdensprache beizubringen, und Sam zeigt ihr, wie sie das meiste aus ihren anderen Sinnen herausholen kann. Es ist noch gar nicht so lange her, doch sie hat sich schon bemerkenswert gut angepasst. Sie scheint offenbar die Wahl getroffen zu haben, es einfach hinter sich zu lassen.«

      »Das ist großartig«, sagte Graham.

      »Wie geht es Bang?«, fragte Clarissa. »Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, hatte er es immer noch sehr schwer, mit allem klarzukommen.«

      »Das


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