Feuerjäger: Sammelband. Susanne Pavlovic

Feuerjäger: Sammelband - Susanne Pavlovic


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seine blinde Seite gekommen. Er dankte Gròr, dass er sie nicht ansehen musste.

      »Wie spät wird es wohl sein?«, fragte sie, und ein Schauer überlief ihn, als ihr Atem seine Wange streifte. »Mitternacht?«

      »Weit früher«, sagte er, dessen zuverlässiges Zeitgefühl ihn selbst jetzt nicht im Stich ließ. »Noch zwei Stunden bis Mitternacht, würde ich sagen.«

      Sie seufzte. »Das wird eine lange Nacht werden. Warum erzählst du mir nicht eine Geschichte?«

      »Erzählen? Ich?«

      »Du bist – wie alt? Einhundertvierzehn? Älter, als ich jemals werde. Du musst doch etwas erlebt haben in all der Zeit.«

      »Ich bin kein guter Erzähler«, wehrte er ab und spürte gleich darauf ihren Ellenbogen, wie er sich in seine Seite bohrte.

      »Du bist der einzige Erzähler, den ich hier habe«, sagte sie. »Also, streng dich an.«

      Er wagte nicht die geringste Bewegung. Er spürte überdeutlich ihre Nähe, und er konnte sich nicht erinnern, je etwas erlebt zu haben, das ihn gleichermaßen verwirrt und eingeschüchtert hatte. Er fürchtete, seine Stimme könne versagen, und räusperte sich vorsichtig.

      »Was ist?«, sagte sie. »Ich warte.«

      »Na gut«, sagte er und stellte zu seiner höchsten Erleichterung fest, dass seine Stimme ihm gehorchte. »Ich werde dir die Geschichte von Gròr und den Fünf erzählen. Unser kleines Gespräch gestern Mittag hat in mir den Eindruck erweckt, dass du auf diesem Gebiet noch einige Wissenslücken schließen kannst.«

      »In Ordnung«, sagte sie sanft. »Ich bin ganz Ohr.«

      Er räusperte sich erneut, ging in Gedanken die vertrauten Worte durch und überlegte kurz, wie sie sich am treffendsten in die Menschensprache übersetzen ließen.

      »Am Anfang war die große Leere«, begann er vorsichtig. »Der Himmel war voller Sterne, aber sie trugen kein Leben, und Gròr der Eine, Der Im Anfang Ist, den die Menschen Grandir nennen, schwebte in der Leere. Es klingt schöner in meiner Sprache«, unterbrach er sich entschuldigend. »Ich habe nie zuvor versucht, das zu übersetzen.«

      »Macht nichts«, sagte sie. »Erzähl einfach weiter.«

      »Und zu einer Zeit beschloss Gròr, die Leere mit Leben zu füllen«, fuhr Thork fort. »Er sprach, ich will eine Welt schaffen nach meiner Vorstellung, und ich will sie mit Leben bevölkern nach meiner Art. Und er ging hin und nahm einen gewaltigen Amboss und schmiedete mit seiner Faust den Staub der Sterne zum Erdball ...«

      »Und woher nahm er den Amboss? Du sagtest, am Anfang sei nichts als Leere gewesen.«

      »Unterbrich mich nicht.«

      »Schon gut. Vielleicht war ja am Anfang eine große Leere mit einem Amboss drin.«

      Er erwiderte nichts, sondern nahm seine Erzählung wieder auf.

      »Er schmiedete also den Erdball und setzte ihn zwischen die Sterne, und noch war die Welt leer, und sie bestand aus Stein und Gold und Eisen, aber da war niemand, der es bearbeitete und sich an seiner Schönheit erfreute. Da nahm Gròr Stein aus den Tiefen der Gebirge und formte die Zwerge, und er schickte sie in die Welt, diese zu gestalten und über sie Verantwortung zu tragen.«

      »Wovon haben sie gelebt?«, fragte Lianna.

      »Ich verstehe nicht«, sagte Thork verwirrt.

      »Stein und Gold und Eisen«, wiederholte sie. »Ich meine, was haben die ersten Zwerge gegessen?«

      »Ich weiß nicht«, sagte er ungehalten. »Die ersten Zwerge sind längst zurück bei Gròr in den Steinernen Hallen. Man kann sie nicht mehr fragen.«

      »Vielleicht haben sie Stein gegessen«, überlegte Lianna. »Es gibt heute noch Menschen, die behaupten, Zwerge würden Stein essen. Das tun sie doch nicht, oder?«

      Er spürte, wie sie ihren Kopf an seiner Schulter bewegte.

      »Nein«, sagte er. »Unsinn. Möchtest du es weiter hören, oder fällt dir vielleicht noch eine Frage ein?«

      »Im Augenblick nicht.«

      »Wo war ich? Ah ja. Also, die Zwerge nahmen Besitz von der Welt und hüteten sie in Gròrs Sinne, und sie lernten die Seele des Steins zu verstehen und gruben gewaltige Städte in die Berge, und sie lernten Gold und Eisen zu bearbeiten und schufen daraus wundervolle Schätze, und so blieb es für eine lange Zeit.

      Gròr aber, der über die Zwerge wachte, fühlte, dass die Zwerge erst der Anfang waren von einer größeren Schöpfung, um die Leere zwischen den Sternen zu füllen, und so teilte er seine göttlichen Kräfte und schuf sich eine Gefährtin, Mindari, die ihr Menschen Alrune nennt. Und aus der göttlichen Verbindung gingen hervor Skàlmoldr, welcher bei euch Arathron ist, Skògr, den ihr Lares nennt, Geri, welche Meridia ist in eurer Sprache, Tyr, den ihr Mydalon nennt, und Kveldr, Keldon in eurer Sprache, der Kindgott. Es gab aber noch fünf weitere Kinder, für die es in der Neuen Sprache keine Namen gibt, und dies waren Skirnir, Nergal, Dolgr, Fryia und Loki.«

      »Warte mal«, unterbrach sie ihn, und er spürte, wie sie von unterdrücktem Lachen geschüttelt wurde. »Sie haben zehn Kinder gemacht? Hab ich richtig mitgezählt? Himmel, sie müssen ordentlich scharf aufeinander gewesen sein.«

      »Dies ist die Heilige Schöpfungsgeschichte, keine lustige Posse zu deinem Vergnügen!«, schalt Thork. »Also hüte deine Zunge!«

      »Verzeih mir«, sagte sie fügsam, aber er glaubte nicht, dass sie es auch nur im Ansatz ernst meinte. »Erzählst du weiter? Ich verspreche dir, dass ich keine ungehörigen Fragen mehr stelle.«

      »Das glaube ich erst, wenn ich’s erlebt habe«, knurrte er, nahm aber den Faden seiner Geschichte wieder auf.

      »Mindari aber sah auf die Welt, die Gròr geschaffen hatte, und sie fand Raum für andere Völker, und so beauftragte sie Skàlmoldr und Skògr, die beiden ältesten, den Zwergen Gesellschaft zu geben. Und Skàlmoldr ging hin und nahm eine Handvoll Feuer und schuf daraus die Menschen, die so schnell entstehen und verlöschen wie die Flammen, aus denen sie gemacht sind, die ebenso heiß brennen und die Heil und Zerstörung ebenso eng vereinen. Skògr aber ließ sich Zeit mit seiner Schöpfung, er dachte lange nach, welche Gefährten er den Zwergen und den Menschen geben sollte, und schließlich schuf er aus seinem göttlichen Atem ein Volk, welches in seiner Schönheit und Erhabenheit alle sterblichen Wesen an ihren göttlichen Ursprung erinnern sollte.«

      »Die Elfen.«

      »Genau. Er gab den Elfen eine lange Lebensspanne, so dass sie für die Augen der Menschen nicht alterten, und er gab ihnen die Liebe zu der Schönheit der Schöpfung, etwas, das sie mit den Zwergen tief verband.«

      »Und was haben die anderen Götter zu tun bekommen?«

      »Geduld, Prinzessin. Geri, Tyr und Kveldr vervollständigten die Schöpfung, indem sie Tiere und Pflanzen in unüberschaubarer Vielfalt schufen und sie die Welt bevölkern ließen. Und Geri, die sich immer schon in dunkle Wolken gehüllt hatte, erhielt ihre Aufgabe als Hüterin des Todes. Und so lebten die drei sterblichen Völker in Frieden zusammen und alles hatte seine Ordnung. Bis zu dem Tag, als unter Nergal und Skirnir ein Wettstreit ausbrach, wer wohl unter den Erdvölkern die tiefste Verehrung erführe, und sie begannen, auf der Erde unter den Völkern zu wandeln und gaben ihren Anhängern Macht, und ihre Anhänger waren Menschen, denn die àlfr sind nicht interessiert an Macht und die Zwerge haben nie einen anderen Gott verehrt als Gròr und werden es nie tun. Und sie sammelten Heerscharen um sich und führten sie gegeneinander in den Krieg, und sie beschworen Kreaturen aus Feuer und Schatten, die sie aufeinander hetzten, Kreaturen von unvorstellbarer Bösartigkeit, deren einziger Lebenszweck Tod und Zerstörung war. Gròr und Mindari sahen dies mit Schrecken, doch als sie einschreiten wollten, kamen Dolgr, Loki und Fryia und stellten sich auf die Seite von Nergal und Skirnir, denn sie hatten Gefallen am Beispiel ihrer Brüder gefunden und es gelüstete sie danach, Anbetung von den Sterblichen zu erfahren. Und es entbrannte ein Krieg, ein schrecklicher Krieg, schlimmer als man ihn sich heute vorstellen kann. Über Generationen


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