Die Chiemsee Elfen. Yvonne Elisabeth Reiter
sich das Volk hier unten am Chiemsee angesiedelt hatte, bekam der König einen langen Brief von einem kleinen Finken überbracht. Seoras sagte, dass der Brief so schwer war, dass er ihm beinahe aus dem Schnabel gefallen wäre. Dieser Fink war ein Nachkomme des Finks, der bei dem Zauberer lebte. Der Zauberer konnte voraussehen und hatte vor seinem Tod diesen Brief verfasst. Darin steht die magische Formel, jedoch keine Auflösung. Dein Großvater weiß mehr darüber. Ich weiß nur so viel, dass ein Teil dieser Formel eine Zahl ergibt, die mit deinem kosmischen Geburtsdatum übereinstimmt. Zudem muss der Öffner und somit der Besitzer ein auserwählter Elf sein, so wie es nur Könige sind.«
»Und falls ich eine Auserwählte bin, könnte ich die magische Hülle der Kugel vielleicht entzaubern?«
»Man vermutet dies«, erwiderte Yavira.
»Aber warum öffnen? Es gibt doch keinen Grund dafür«, wollte Nimue wissen, die dabei vor allem an die Gefahr aus der Dunkel- und Schattenwelt dachte, die eine Öffnung mit sich bringt.
»Oh, meine Liebe, den gibt es. Die Schattenwelt ist auf dem Vormarsch. Ganz England, Teile Europas und Amerika sind unter einem grauen Nebel verschwunden. Das Land Neuseeland kann nicht einmal mehr geortet werden, und Australien zieht sich allmählich auch zu. Die Zauberwesen leiden dort Hunger und Nöte, und auch den Menschen geht es nicht gut. Viele wandern in die lichtvollen Gegenden aus. Doch dort wird der Raum eng, was Streit und Hass fördert. Dies wiederum macht es den dunklen Mächten leicht, auch diese Gebiete zu erobern. So ist kein Halt und die Ausbreitung des Schattens nimmt seinen Lauf. Zudem wird dies alles von der heutigen, ungesunden Lebensweise der Menschen verstärkt. Schau dir nur ihre zunehmende Umweltverschmutzung an. Das natürliche Lebensumfeld wird durch die Belastung der Natur durch Abfall- und Schadstoffe schwer beeinträchtigt. Das ist es, was die dunklen Mächte anstreben, denn allein die Abgase der Dampflokomotiven oder der neu entwickelten Industrieanlagen vernebeln das Licht und reduzieren dessen Energie. Du weißt doch, wie oft der Abfall von Menschen hier in unser Reich gelangt und wie viel Kraft es kostet, ihn aufzulösen. Maeve unterstützt uns und die Natur ganz und gar. Aber auch ihre Heilkräfte sind begrenzt. Denk nur an die Grünen Kinder. Sie sind besonders gefährdet.«
»Grüne Kinder?«, fragte Nimue und erkannte, dass sie noch so gut wie gar nichts über die Welt wusste.
»Sie leben im Wald oder anderen natürlichen Plätzen. Ihr Lebensraum wird immer kleiner. Die Menschen holzen ab oder zerstören natürliche Lebensräume auf eine andere Art und Weise. Nun siedeln sie sich vermehrt an Gewässern an, die nicht so einfach umgebettet werden können.«
»Wie sehen die Kinder aus, Mama?«
»Sie sehen aus wie Menschenkinder, nur mit grüner Haut und sehr dünner Statur, beinahe ausgemergelt. Sie haben, wie wir Elfen, spitze Ohren, ein paar grüne Haare auf dem Kopf und tragen in der Regel nur eine aus braunem Leder bestehende kurze Hose. Es sind gute Wesen, die an der Erhaltung der Natur teilnehmen, dennoch haben sie keine Zauberkräfte und müssen dem schrecklichen Verlauf mehr oder weniger zusehen.«
Nimue empfand ein Mitgefühl diesen Wesen gegenüber und auch den Wunsch, sie einmal kennenzulernen. Kurz darauf verschwamm alles um sie herum; ihre Welt drehte sich um 180 Grad und sie konnte sich nicht dagegen wehren. Alles war anders, und doch war es wie zuvor. Sie spürte, dass das Wissen einer Sache eine Veränderung nach sich zog, sodass sich eine scheinbar gleiche Welt urplötzlich ganz anders anfühlen konnte. Sie atmete tief durch.
Nach einer Weile musste sie wieder an die Grünen Kinder denken und sie fragte: »Aber wenn sie so anders aussehen, wie können sie mit den Menschen zusammen auf der Erde leben?«
»Sobald Menschen auftauchen, können sie sich mit der Natur verschmelzen. Also, steht ein Baum in der Nähe, gleichen sie sich dem Baum an oder dem Wasser oder der Wiese.«
Nimue verstand: Es waren Naturwesen, die aufgrund ihrer vollkommenen Reinheit mit der Natur eins sein konnten. Da begannen ihre Gedanken erneut wie in einer Achterbahn auf- und abwärtszufahren. Doch dieses Mal kreisten sie nicht nur unkontrollierbar in ihrem Kopf umher, sondern schafften Bilder, die wie ein Film vor ihrem inneren Auge abliefen. Die dadurch entstandenen Eindrücke warfen wiederum neue Fragen auf. Was bedeutet Yaviras Erzählung für sie? War sie eine auserwählte Elfe? War sie die Elfe, die den Stein finden, die Holzkugel öffnen und somit dem Licht Energie geben sollte, um die Menschen- und Zauberwelt zu reinigen und zu beschützen? Sie hatte keine Ahnung und entschloss sich kurzerhand, keine dieser Fragen jetzt in diesem Moment zu stellen. Sie erkannte, dass ihre Mutter stark geschwächt von all dem Sprechen war. Trotzdem wollte sie noch wissen: »Ist das nun gut für mich, Mama?«
»Es gibt darin kein Gut oder Schlecht. Es kommt darauf an, was du daraus machst.«
»Aber was soll ich machen, ich meine, falls ich es bin, die auserwählt ist?«
»Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Falls du es bist, werden sich dir die Lösungen zeigen.«
»Und wenn die dunkle Macht trotzdem siegt?«
»Das wird nicht passieren, mein Schatz.«
»Und falls doch?«
»Dann müssen wir damit leben und uns den Gegebenheiten anpassen.«
»Das wäre deiner und Papas sicherer Tod?«
»Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Es gibt immer eine Lösung, auch wenn es nicht danach aussieht.«
»Natürlich kämpfe ich, Mama. Trotzdem hoffe ich, dass ich es nicht bin«, gestand Nimue eingeschüchtert von der großen Verantwortung. »Was wäre, wenn ich mir etwas wünsche, was auf keinen Fall mit all dem zu tun hat?«
Yavira lachte. »Wünsch dir, was dein Herz begehrt. Es wird dich auf den richtigen Weg leiten. Denk immer daran, falls du die auserwählte Elfe bist: Es ist eine große Ehre. Du wirst nie allein sein, mein Schatz, das verspreche ich dir.«
Sollte sie diese Aussage beruhigen? Dann machte ihre Mutter alles richtig, denn genau das tat sie.
Da übertönten eine Trompete und ein Durcheinander von Stimmen die Laute der Pferdehufe.
»Sie sind da«, schrie Nimue und sprang auf. Blitzschnell entfernte sie ein paar Strohhalme von ihrem Kleid und erklärte: »Ich gehe in den Hof, Mama.«
»Ja, tu das. Ich komme nach.«
Nimue verließ den Stall und sah viele Elfenmänner in den Hof reiten. Ihre Blicke suchten ihren Großvater, doch der war weit und breit nicht zu sehen. Da entschloss sie sich, bei den Tara-Ställen zu suchen.