Die Chiemsee Elfen. Yvonne Elisabeth Reiter

Die Chiemsee Elfen - Yvonne Elisabeth Reiter


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Sei­te. Dort war sein Va­ter Seo­ras, der Kö­nig, fest­ge­hal­ten. Am obe­ren Rand konn­te sie le­sen »Sohn des Tad­gh, ehe­ma­li­ger Kö­nig des Kö­nigs­reichs Shen­ja – SEO­RAS, Kö­nig des Kö­nig­reichs Shen­ja.« An bei­den Sei­ten be­fand sich eine Pflan­ze, die von un­ten nach oben wuchs.

      »Siehst du die Pflan­ze, Ni­mue? Sie wächst, so­lan­ge die Elfe am Le­ben ist. Der Tod be­en­det eben­so ihr Wachs­tum. Da­durch kann man schon beim ers­ten Blick er­ken­nen, ob die Elfe noch am Le­ben ist und, falls nicht, wie alt sie ge­wor­den ist.«

      Er blät­ter­te eine Sei­te wei­ter. Auf die­ser war die Pflan­ze nur zur Hälf­te hoch­ge­wach­sen und Ni­mue stell­te fest – im Ge­gen­satz zu der vor­he­ri­gen – sie be­weg­te sich nicht leicht hin und her. Sie las den Na­men Ba­ra­bel und wuss­te so­gleich wie­so. Es war ihre Ur­groß­mut­ter, die auf der lan­gen Rei­se in Eng­land um­ge­bracht wor­den war.

      »Was ist das für eine Blu­me?«

      »Das ist ein Efeu, Ma­mas Lieb­lings­pflan­ze.«

      Er blät­ter­te eine Sei­te wei­ter und da war Ka­tar. Sei­ne Blu­me war ein gel­ber Fin­ger­hut, der sich leicht be­weg­te. »Siehst du, mein On­kel liebt den gel­ben Fin­ger­hut. Be­son­ders sei­ne rei­ne, gel­be Blü­ten­fa­r­be hat es ihm an­ge­tan.« Er blick­te kurz zu ihr auf und be­merk­te: »So wie dein Kleid. Gute Wahl!«

      Sie lä­chel­te zu­frie­den. »Und ich, Opa, was habe ich für eine Blu­me?«

      Er blät­ter­te wei­ter und wei­ter, bis er auf ihre Sei­te stieß. Mit­tig am obe­ren Rand las sie: »Toch­ter des Hu­bert, des Kö­nigs En­kel – NI­MUE, Ur­en­ke­lin des Kö­nigs.« Dann ent­deck­te sie ihre Blu­me am un­te­ren Rand. Sie war noch ganz klein. Sie mach­te den An­schein, als ob sie ge­ra­de erst zu wach­sen be­gon­nen hät­te.

      Er­staunt frag­te Ni­mue: »Wie kann das Buch das wis­sen? Wie geht das? Die­se Blu­me wächst doch seit mei­ner Ge­burt?«

      »Ja, das tut sie und ja, es weiß mehr als du ahnst. Wenn du be­reit bist, wirst du es auch le­sen kön­nen.«

      »Wie meinst du das?«

      »In die­ser Schrift lie­gen dir vie­le Wor­te noch ver­bor­gen. Sie zei­gen sich nur den Aus­er­wähl­ten. Auch ich kann nur be­dingt über un­se­re Vor­fah­ren le­sen.«

      »Wer kann dann al­les dar­in le­sen?«

      »Seo­ras ist ein Aus­er­wähl­ter. Ihm zei­gen sich alle Wör­ter.«

      »Was steht in die­sem Buch?«

      »Al­les über den oder die Elfe, de­ren Name oben am Rand steht. Da­bei spie­len Her­kunft, Cha­rak­ter, Kämp­fe, Ver­diens­te, Ehe, Freun­de, Fes­te, be­wuss­te und un­be­wuss­te Ta­ten eine Rol­le; ein­fach al­les, das voll­kom­me­ne Le­ben die­ser Elfe.«

      »Wow. Meinst du, dass ich ir­gend­wann mal die Wör­ter le­sen kann?«

      »Viel­leicht, Ni­mue, viel­leicht.«

      »Kann ich die Blu­men mei­ner El­tern se­hen«, frag­te Ni­mue ein we­nig trau­rig.

      Er hol­te ge­ra­de Luft, um zu ant­wor­ten, als ab­rupt die Tür auf­ge­ris­sen wur­de.

      Ni­mue er­schrak hef­tig, dann hör­te sie Ma­rie schrei­en: »Ka­tar, Ka­tar!«

      Es lag eine Be­dro­hung in ih­rer Stim­me, was Ni­mue be­un­ru­hig­te. Im Grun­de gab es kei­ne Un­ru­hen oder an­de­re be­droh­li­che Er­eig­nis­se in ih­rem El­fen­le­ben, und doch lehr­te ihr Groß­va­ter sie, im­mer acht­sam zu sein. Leicht­sinn konn­te schreck­li­che Fol­gen ha­ben, wie sich an ih­rer Fa­mi­li­en­ge­schich­te be­reits zeig­te.

      Aar schloss das Buch und leg­te es in einen Raum hin­ter ei­nem Bild, den Ni­mue bis­her nicht kann­te. Er rück­te das Bild wie­der zu­recht und rief: »Ich kom­me!«

      »Was ist los, Ma­rie?«, woll­te Ni­mue wis­sen.

      »Geh in dein Zim­mer und war­te, bis ich kom­me«, hör­te sie dar­auf­hin ihre Groß­mut­ter Oona sa­gen, ohne sie da­bei zu se­hen.

      Ma­rie und Aar ver­schwan­den durch die Tür, wor­auf Ni­mue wie ver­stei­nert auf dem glei­chen Platz stand.

      »Was ist pas­siert?«, frag­te sie sich. »War­um muss ich in mein Zim­mer ge­hen?«

      Lang­sam be­weg­te sie sich fort. Als sie dort an­kam, über­fiel sie die Neu­gier­de. »Nein«, sag­te sie be­stim­mend, »ich will wis­sen, was da los ist!«

      Ni­mue schlich auf Ze­hen­spit­zen aus dem Zim­mer und sah sich um. Der Gang war el­fen­leer. Dar­auf­hin be­gab sie sich in die gro­ße Ein­gangs­hal­le.

      »Uhri­lia, weißt du, was hier vor sich geht?«

      »Ich weiß nur, dass vor ge­nau 14 Mi­nu­ten und zehn Se­kun­den Ma­rie schrei­end durch die Hal­le lief. Dann, ge­nau fünf Mi­nu­ten und drei Se­kun­den spä­ter, rann­te die Kam­me­rel­fe Tt­schi el­fen­schnell durch den Raum, ge­folgt von an­de­ren El­fen und ein paar Hein­zel­chen. Ge­ra­de eben, also vor zwei Mi­nu­ten und 59 Se­kun­den, lief dein Groß­va­ter mit Ma­rie durch die Hal­le und ver­ließ sie durch die gro­ße Ein­gangs­tür wie­der.« Uhri­lia at­me­te tief durch. »Also«, be­schwer­te sie sich be­lei­digt, »mir sagt ja kei­ner was. Ich bin ja nur eine klei­ne Uh­re­n­el­fe, die die Zeit für alle im Über­blick be­hält.«

      »Dan­ke, Uhri­lia, das bist du be­stimmt nicht. Wir sind alle sehr froh, dich zu ha­ben.«

      Die­se un­ge­wöhn­lich net­ten Wor­te freu­ten die Uhr, und so lä­chel­te sie vor sich hin.

      Ni­mue ging in den Hof hin­aus und sah al­ler­lei Tie­re, die fra­ßen, mit­ein­an­der kom­mu­ni­zier­ten oder wild um­her­lie­fen. Sie blick­te zu den Pfer­de­stäl­len und ent­deck­te ih­ren Groß­va­ter, der hin­ter ei­ner Stall­tür ver­schwand. Die­se stand einen Spalt weit of­fen und so ver­stand sie die Stim­men der an­we­sen­den El­fen. Ab­rupt blieb sie vor der Tür ste­hen, um ih­ren Wor­ten zu lau­schen. Sie war sich nicht über die Iden­ti­tät al­ler dor­ti­gen El­fen si­cher, doch ihre Groß­mut­ter, Aoi­fe, Ma­rie und auch die lei­se Stim­me ih­res Va­ters hör­te sie mit Ge­wiss­heit.

      »Was sol­len wir ma­chen?«, frag­te Oona be­sorgt.

      »Wir brau­chen Män­ner, und zwar vie­le«, ver­nahm sie Aars Stim­me.

      »Ich kom­me auch mit, Va­ter«, be­stimm­te Hu­bert ent­schlos­sen.

      »Nein«, er­wi­der­te Aar, »das ist zu ge­fähr­lich für dich. Du bist zu klein und da­her zu an­greif­bar. Ich möch­te nicht, dass dir et­was pas­siert!«

      Dar­auf folg­te ein lau­tes Rau­nen. Ni­mue war zu auf­ge­regt, als dass sie sich auf die ein­zel­nen Wor­te hät­te kon­zen­trie­ren kön­nen. »Was ist da los?«, wun­der­te sie sich zu­neh­mend. »Aar braucht ein Heer an Män­nern?«

      Da hör­te sie Oona mit­tei­len: »Ich gehe und läu­te die Glo­cke.«

      »Die Glo­cke?«, er­schrak Ni­mue. Man läu­te­te die Glo­cke nur, wenn gro­ße Ge­fahr droh­te. Was soll­te das hei­ßen? War Ka­tar in Ge­fahr? Soll­te das Krieg be­deu­ten oder eine Ret­tungs­ak­ti­on? Sie wur­de im­mer un­ru­hi­ger und riss die Tür zum Stall auf.

      »Was ist hier los?«, kreisch­te sie, da ihre Stim­me


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