Die Chiemsee Elfen. Yvonne Elisabeth Reiter
»Bald steht ein Fest bevor. Meine Familie und ich möchten daran teilhaben. Lädst du uns ein, Nimue?«
Aoife wandte sich ihrer kleinen Schwester zu und deutete mit ihren Augen an, dass sie Nein sagen sollte.
Nimue verstand ihre Andeutung, dennoch fragte sie: »Wer bist du?«
»Ich bin ein Waldgeist und heiße Ukuku. Wir leben mit den Menschen zusammen auf dem Land; genauer gesagt, leben wir auf Herrenchiemsee.«
»Woher weißt du von dem Fest?«
Der Geist fing an laut zu kichern. Er lachte so fest, dass sein Körper vibrierte, während ihn Nimue und Aoife verdutzt anstarrten.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, meinte er: »Jeder weiß von deinem Fest, Nimue.«
Sie nickte, ohne verstanden zu haben. »Wie viele seid ihr?«
Er zählte mit seinen Fingern ab: »Mikuku, Brikuku, Elikuku, Jokuku …«
Dabei folgte Nimue seinen kleinen dicken Fingern und ihrer Bewegungen. Er hatte an jeder Hand nur drei davon. Sie war erstaunt darüber, denn sie hatte eine derartige Hand noch nie zuvor gesehen. Seine Statur war klein, etwa 30 Zentimeter hoch und seine braunen Haare versteckten sich unter einer lila Mütze. Man konnte nur ein paar dunkle Spitzen herausragen sehen. Ukuku hatte winzige Ohren, die man nur bei genauer Betrachtung erkannte. Er trug einen braunen Mantel, der seinen schwer erkennbaren Körper verdeckte. Nur seine Hände und Füße ragten heraus. Er hatte keine Schuhe an, was seine langen Zehen im Vergleich zu den kleinen Füßen überaus stark hervorstechen ließ.
Nimue verglich den kleinen Geist mit ihren guten Freunden, den Seegeistern, doch diese sahen ganz anders aus. Noch dazu sprangen sie niemals herum, so wie es Ukuku tat. Trotzdem deutete sein Körper auf eine Geisterart hin, und somit war sich Nimue sicher, er würde die Wahrheit sprechen. Zudem amüsierte sie sich über seinen Mantel und dessen lustige Eigenheit umherzuflattern, als ob ein starker Wind wehen würde. In einigen Momenten sah es danach aus, als ob unter dem Mantel gar nichts wäre. Zumindest nichts, was mit Elfenaugen zu sehen war.
Da schweiften Nimues Gedanken vollkommen ab, während Ukuku weitere Namen aufzählte, und sie fragte sich: »Schweben nicht alle Geister?«
Sie konnte es sich nicht erklären, als ihr bewusst wurde, dass es von jedem Wesen verschiedene Arten gab und sie natürlich nicht alle Geisterarten kennen konnte. Sie hörte dem kleinen Geist wieder bewusst zu, als er die Zahl »14« erwähnte.
»Es gibt also 14 Waldgeister deines Stammes?«, fragte Nimue nach.
Er verbeugte sich. »Ja, Eure Hoheit.«
»Ich freue mich, euch alle auf meinem Fest begrüßen zu dürfen.«
Sie hörte ein »Huih, hudihui«, und schon war er mit ein paar Sprüngen aus dem offenen Fenster verschwunden.
Aoife sah sie mit einem unmissverständlichen Blick an, sagte jedoch nichts, worauf Nimue entschlossen aufstand.
»Ich muss weg, Aoife.«
Kurz darauf verließ sie ihr Zimmer.
Nimue war auf dem Weg zur Eiche, um endlich mit ihrer inneren Stimme zu sprechen. Während sie durch das Dickicht des Waldes ging, hörte sie Aaro schon von der Ferne mit seiner Nachbarin lautstark diskutieren.
Als er Nimue entdeckte, rief er ihr zu: »Nimue, gut, dass du kommst.«
Sie verließ das Dickicht und schon begrüßte sie Aaros Nachbareiche: »Hallo, Nimue, ich habe gehört, dass du bald Geburtstag hast.«
Nimue nickte.
»Ich bin Eikondia.«
»Das weiß ich doch?!«, wunderte sich Nimue.
»Was glaubst du, könnten wir mitfeiern?«
»Wie soll das gehen, ihr könnt euch doch nicht von hier wegbewegen? Das Fest findet im Schloss statt.«
»Ja«, antwortete Eikondia und sprach langsam und bedacht weiter, »vielleicht hast du noch eine Idee, wie es doch gehen könnte?«
»Ich kann ja einmal darüber nachdenken?«, schlug Nimue vor. Doch Eikondias Blick senkte sich und da meinte Nimue: »Versprochen!«
Aaro nickte zustimmend. Dann forderte er Nimue auf: »Nun schnell rein da«, während er mit einem Zweig auf seinen bereits offen stehenden Baumstamm deutete. »Du hast heute noch einiges vor, nicht wahr? Geplaudert wird ein andermal.«
Sie folgte seiner Anweisung und ging in die Höhle. Dabei begrüßte sie die Stuhldame, die noch ein wenig beleidigt mit einem leisen »Hey« antwortete.
Nimue setzte sich auf den Boden und kreuzte ihre Füße, so wie der Eichenbaum es ihr erklärt hatte. Die Hände legte sie dabei auf ihre Oberschenkel. Währenddessen hörte sie laute Krachgeräusche von Aaro, der nun all seine Energie auf die Höhle konzentrierte. Dann wurde es warm um sie herum. Sie flüsterte: »Danke, Aaro.«
Gleich darauf bebte der Boden unter ihr sanft, und sie wusste, dass dies »Bitte« heißen sollte.
Sie wollte keine Zeit verschwenden und fing sogleich an, über ihre Wünsche nachzudenken. Bei einigen Ideen wurde ihr Herzschlag schneller und sie dachte: »Vielleicht ist das ein Zeichen?« Sollte sie mehr auf Zeichen achten, anstatt etwas zu suchen, das sie nicht hören konnte? Sie war verwirrt. Fragen über Fragen begannen in ihrem Kopf zu kreisen: Wie hört man seine innere Stimme? Ist mein großer Wunsch nicht real?
Da murmelte sie: »Woher kommt der Wunsch zu reisen? Geht er von meiner inneren Stimme aus oder will nur eine meiner Emotionen das Gleiche wie Cara erleben?«
Sie hatte keine Ahnung. Wenn sie nun all die kleinen und großen Wünsche in ihrem Kopf auf eine Waagschale legte, reagierte diese unterschiedlich darauf. Manche Wünsche hatten mehr Gewicht, weil sie das bedrückende Gefühl der Vernunft dabei spürte, und andere wiederum waren leichter. Dabei fühlte sie vor allem eine aufregende Begeisterung über die Erfüllung. Trotz dem intensiven Visualisieren hörte sie jedoch keine Stimme. Sie kam zu keinem Ergebnis, und so dachte sie an das einzigartige Gefühl der Leichtigkeit vom vorherigen Tag, aus dem die Stuhldame sie unsanft herausgezogen hatte. Was wollte ihr dieses Gefühl sagen? War sie möglicherweise auf dem richtigen Weg und kurz davor, ihre innere Stimme zu hören, oder war es nur etwas ganz anderes? Etwas, das sie noch nicht kannte und daher nicht verstand.
Sie seufzte, denn ihr wurde immer deutlicher bewusst, wie wenig sie vom Leben wusste.