Die Chiemsee Elfen. Yvonne Elisabeth Reiter
der ist das größte Übel.«
»Wie meinst du das?«
Ein undefinierbares Geräusch ging durch den Raum, das Nimue im ersten Moment erschreckte. Sie hielt den Atem an.
»Es ist so« – er holte tief Luft – »deine Gedanken schwirren durch den Kopf und dann, na dann bist du nicht mehr ruhig und kannst dich nicht mehr auf das konzentrieren, was du eigentlich machen willst: deine innere Stimme finden.«
»Ja, so war es gerade«, schoss es aus ihr heraus, denn ihre Gedankengänge ließen manchmal ihr Herz schneller schlagen. Das bewirkte eine innere Unruhe. Gleichzeitig fingen noch mehr Gedanken an, sich im Kreis zu drehen und lenkten sie ab.
»Versuche sie abzustellen und überwinde sie.«
»Überwinden?«, stellte Nimue infrage.
»Stell dir die große Marktmauer auf der Zauberinsel Süd vor. Wenn du außerhalb stehst, kannst du das Fest nicht sehen. Trotzdem ist es da, nicht wahr? So wie diese Mauer, versperren dir deine Gedanken die Sicht auf dein inneres Ich, dein Seelenreich, die unsterbliche Seite von dir, deine innere Stimme.«
Nimue war beeindruckt über die Weisheit ihres Freundes und sagte: »Ich probiere sie abzustellen.«
»Gut, so soll es geschehen«, erwiderte der Eichenbaum.
Nimue hatte jedoch keine Ahnung, wie man Gedanken erfolgreich abstellt. Denkt man nicht immer, irgendwie, war sie sich sicher.
Stúhly erkannte ihre Unsicherheit und schlug vor: »Konzentriere dich auf den Furchenstein vor dir. Das wird dir helfen.«
Ohne ihre Worte infrage zu stellen oder ihr zu antworten, tat sie dies. Sie fixierte den Kalkstein, der von schlangenartigen Rinnen durchzogen war. Dennoch entstanden wieder Gedanken, denn unbewusst fing sie an, den Stein zu beschreiben: seine natürliche Form, sein Muster, die verschiedenen Farben und seine mineralische Zusammensetzung. Es dauerte eine Weile, bis sie den Stein für sich definiert hatte. Sie stoppte noch im Kern ein paar andere, sich einschleichende Gedanken, bevor ihr Kopf all die Schwere losließ, die er kürzlich innehatte. Auf diese Weise verschwamm der Stein nach und nach vor ihren Augen. Es war, als ob ihre Sehkraft sich von außen nach innen wandte und dabei die äußere Erscheinung im vollkommenen Dunkeln stehenließ. Nachdem sie vollständig im Meer des Nichts eingetaucht war, schloss sie ihre Augenlider. Daraufhin fühlte sie, wie sich ihre Brust allmählich öffnete und dabei erwärmte und dann, plötzlich, war sie wieder in diesem Zustand, der sich so gut anfühlte. Kein Gedanke belastete sie mehr. Keine Worte kreisten in ihrem Kopf. Es bestand nur noch das Gefühl; warm, rund und wohlwollend. Nichts wurde mehr infrage gestellt, erklärt oder bestimmt, sondern ausschließlich gelebt. Sie wusste nicht, wie lange dieser Moment anhielt, als sich ein Bild vor ihr auftat. Gleichzeitig nahm der schwerelose Zustand das normale Körpergefühl wieder an. Dadurch fühlte es sich schwerer und anfangs belastend an.
Nimue öffnete ihre Augen und sah die Stuhldame direkt vor ihr stehen. Ihre Rückenlehne dehnte sich derart, dass darauf ein lachender Mund sichtbar wurde.
»Na, wie war’s?«, wollte Stúhly wissen.
»Schön, aber wo war ich?«
Schlagartig krachte es um sie beide herum. Der Baum bewegte sich wild hin und her: »Du wirst doch nicht, Stuhl?!«
»Nein, nein, ich habe gewartet bis Nimue selbst zurückkam.«
»Gut zu hören. Wie war’s, Nimue?«, fragte er daraufhin beruhigt.
»Einzigartig toll, Aaro. Ich weiß nur nicht, wo ich war?«
»Du bist auf dem Weg zu deinem innersten Selbst gewesen, also zu dir.«
»Wirklich?! Da war aber keine Stimme«, bemerkte Nimue leicht frustriert.
»Gib dir Zeit. Es ist noch kein perfekter Sich-Selbst-Findender vom Himmel gefallen.«
Nimue wollte gerade aufstehen und den Eingang öffnen lassen, als Aaros Herz laut und unruhig zu pochen begann. Er flüsterte: »Bleib drinnen, beweg dich nicht.«
Erschrocken hielt sie sich mäuschenstill. Da hörte sie einen sich annähernden Tumult. Er deutete auf eine wilde Herde hin, die laut durch den Wald trampelte. Das dumpfe Geräusch ihrer Schritte konnte man mit keinem der zarten Elfenschritte vergleichen, also mussten es andere Wesen sein. Sie schärfte ihre Sinne und hörte einige Stimmen durcheinandersprechen. Dabei versuchte Nimue, durch den dicken Baumstamm hindurchzusehen. Es gelang ihr jedoch nicht. Gleichzeitig wurde sie auf eine tiefe Stimme aufmerksam: »Wo ist die Prinzessin? Das Brett hat doch gesagt, dass sie im Wald ist.«
»Ich weiß es nicht, Vater. Lass uns auf der anderen Seite des Waldes suchen.«
»Auf keinen Fall. Ich rieche hier Elfen, also muss sie hier sein!«, erwiderte wiederum eine andere Stimme harsch.
Nimue konnte diese Wesen ebenso riechen. Es war ein unangenehmer Geruch, der sie an den Kompost erinnerte, den die Schweine für gewöhnlich fraßen.
Sie ging einen Schritt zurück, weg von dem immer stärker werdenden, durchdringenden Duft und trat dabei auf das Stuhlbein.
»Aua«, beschwerte sich die Stuhldame.
»Da, da war was!«, schrie eines dieser stinkenden Wesen.
Nimue strich Stúhly sanft über den Arm und entschuldigte sich damit. Da fing das Eichenlaub außerhalb der Höhle an, unter der Last von Schritten zu rascheln. Nimue wurde klar, dass die Wesen jetzt rund um den Baumstamm nach ihr suchten, als es laut klopfte. Nimue zuckte heftig zusammen. Sie kannte diese Kreaturen nicht und so überfiel sie schlagartig eine Angst. Sie vermutete zudem, dass die Eichenblätter auf dem Höhleneingang kein Hindernis für solche Wesen darstellten.
»Was wollen die von mir?«, fragte sie sich zitternd.
Nimue hatte keine Ahnung, dass Aaro die Blätter nur deshalb auf den Eingang legte, weil sie den Innenraum schöner aussehen ließen. Das Grün erhellte sanft den Raum und kreierte eine harmonische Stimmung. Außerhalb jedoch schloss er sich vollkommen, sodass niemand auch nur einen kleinen Spalt sehen konnte. Aus diesem Grund konnten die ankommenden Wesen keinen Hinweis auf eine Öffnung oder Höhle finden. So war Nimue vollkommen beschützt in ihrem Versteck, doch war ihr das zu dieser Zeit nicht bewusst.
Dann ertönte ein weiterer Schlag auf den Baumstamm. Erst ganz leicht und dann immer fester. Daraufhin mehrten sich die Schläge und es wurde immer lauter im Innenraum. Nur einen Moment lang musste Nimue ihre