Knochenfeuer. Jenny Pieper
Seit meiner Kindheit hatte ich jeden Tag auf dem Feld ausgeholfen. Jeder Bewohner verfolgte seine Aufgabe in Grünfrey und beteiligte sich daran, unsere Versorgung zu sichern. Wir betrieben keinen Handel und waren auf unsere eigenen Lebensmittel angewiesen. Es gab keinen Winter, auf den wir uns vorbereiteten, sondern nur stetigen Sonnenschein, der uns die Feldarbeit erleichterte. Ich war durch die körperliche Arbeit drahtig und kräftig geworden. Aber nun wirkte ich wie ein Winzling im Vergleich zu den Männern, die täglich um mich herumstanden.
Ihre Arme waren muskulös und sie standen mit nacktem Oberkörper aufrecht im Schnee. Starr wie Statuen.
Bisher hatte ich im Immerwährenden Sommer gelebt. Mit einer Sonne, die nur zur Dämmerung herabsank und nie unterging. Nun stand ich zitternd im Tiefen Winter.
Jeden Morgen stellten wir uns, wie heute, in einer Reihe auf, einem Mann zugewandt, der ein paar Fuß von uns entfernt auf und ab lief. Er hieß Arnen, war unser Lehrer, Trainer, Meister – wie auch immer man ihn nennen mochte. Für mich war er der Schlüssel zu meinem Erfolg.
Kindras Rettung.
Das Training begann und Arnen kannte keine Gnade. Leicht bekleidet trainierten wir unsere Kraft, wobei ich am schlechtesten abschnitt. Wir lernten erste Taktiken und Techniken für den Schwertkampf und attackierten uns mit Stöcken. Meine Haut hatte durch die Kälte einen bläulichen Ton angenommen. Dazu gesellten sich einige andere Farbtöne durch die Blutergüsse, die sich über meinen Körper zogen.
Abhärtung hatte es unser Lehrer genannt. Stärkung und Kräftigung des Körpers und des Willens. Schaffung von erschwerten Begebenheiten. Mein Körper lechzte nach Ruhe, aber ich begrüßte den Schmerz. Er brachte mich voran. Näher an mein Ziel.
Ich biss die Zähne zusammen, jammerte nicht und machte keine Pause. Ständig stand ich am Rande der Erschöpfung. Und wenn ich glaubte, ich würde zusammenbrechen, dachte ich an das, was die Eisenmänner mit meiner Familie gemacht hatten. Plötzlich schöpfte mein Körper wieder neue Kraft. Angetrieben durch den unbändigen Hass, der in mir loderte.
Es waren nicht die Anstrengung, die Kälte oder die Schmerzen, mit denen ich am meisten kämpfte. Es war meine Ungeduld.
Die Tage verstrichen und die Ungewissheit nagte an mir. In meinen Träumen sah ich sie sterben. Blutend und mit Wunden übersät. Die Gruselgeschichten, die wir uns als Kinder erzählt hatten, schlichen sich in meine Gedanken. Nur dass die Goldkinder aus den Legenden Kindras Gesicht trugen.
Auch an diesem Morgen erwachte ich wieder schweißgebadet, trotz der Kälte. Ich schreckte auf wie ein Ertrinkender, der nach der Oberfläche suchte. Mit der Hand tastete ich über den Boden und als ich den gefalteten Kleidungsstapel fand, umschloss ich den Holzvogel, der darauf lag. Ein letztes kleines Stück, das mir von Kindra geblieben war. Seufzend hob ich den Vogel an meine Lippen und betete zur Sonne, dass sie mich erhörte und Kindra beschützte.
Eine Stimme erklang, bevor eine Hand die Plane meines Zelts zur Seite schob und jemand den Kopf hineinstreckte. Es war Arnen.
»Die Männer sind vom Schwarzen Markt zurück«, sagte er und wartete auf eine Reaktion.
Ich starrte ihn einen Moment an, bevor ich auf die Füße sprang und mir meine Sachen überstreifte. »Seit wann?«, hauchte ich und verstaute den Holzvogel in meiner Hosentasche.
»Sie kamen in der Nacht.« Er hielt die Plane zur Seite, damit ich zu ihm hinauseilen konnte. Die Kälte schlug mir wie eine Wand entgegen, aber ich hatte keine Zeit, um zu frieren.
Jetzt passierte endlich etwas.
»Was haben sie herausgefunden?«, hakte ich nach, während ich Arnen durch das Dorf folgte.
Als er nicht antwortete, griff ich nach seiner Schulter und zwang ihn, mich anzusehen. Er warf mir einen schnellen Blick zu und streifte meine Hand ab. »Du wirst es gleich erfahren.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Hatten sie Kindra gefunden? War sie am Leben? Während ich weitere Fragen hinunterschluckte, führte er mich zu einer Höhle am Rand des Dorfes. Im Innern saßen zwei Männer auf einer Bank und tranken aus Tonbechern. Runghum, der Krieger, der mich in Grünfrey entdeckt hatte, schenkte ihnen nach. Der Älteste saß im Schneidersitz auf dem Boden zwischen Kriegern, deren Gesichter ich kannte, aber deren Namen ich nicht mehr zuordnen konnte.
»Also?«, fragte ich in die Runde. Es gab keine Zeit zu verlieren. Ich musste wissen, was mit Kindra passiert war.
Einige interessierte Blicke streiften mich. Arnen legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Setz dich«, er deutete auf einen Hocker, »und reiß dich zusammen.«
Ich schluckte. Wenn das so einfach wäre.
Nachdem ich Platz genommen hatte, stellten die Männer die Becher zur Seite. Der linke begann: »Sie haben sie am Ufer gefunden und an den Königshof verkauft. Sie müsste längst dort sein.«
Mein Körper reagierte wie von selbst. Mit zitternden Knien sprang ich auf die Füße. »Sie lebt«, keuchte ich. Endlich hatte ich Gewissheit, dass ihr Herz noch schlug und sie auf mich wartete.
»Aber sie ist in der Gewalt des Königs«, zischte Runguhm.
Der rechte nickte und ergriff das Wort. »Wir waren zu spät.«
»Aber sie lebt.« Meine Muskeln spannten sich an. Wollten sie sie etwa schon aufgeben? »Ihr seid Hüter. Holt sie zurück.«
Arnen lachte. »Wir werden nicht den Palast stürmen. Und wir werden auch nicht unsere Spione gefährden für ein einziges Mädchen.«
»Aber es ist Kindra!«
»Es ist ein Goldkind«, sagte der Alte und die Geräusche im Raum verstummten. »Es ist wertvoll und eine Gefahr in den Händen unserer Feinde.« Er stemmte die Hände auf seine Knie und erhob sich langsam. »Aber dieser Kampf ist größer als das Leben eines Mädchens. Unser Land ist in Gefahr und wir können unsere jahrelange Vorbereitung nicht für die Rettung von Kindra aufs Spiel setzen.«
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Arnen kam mir zuvor. »Wir sind machtlos, Saki. Schon seit Jahren rüstet der König das Heer auf. Wir müssen bereit sein, falls er entscheidet zu marschieren.«
Ein Krieg? Angespannt wich ich einen Schritt zurück. Der König bereitete sich vor, das Gezeitenreich anzugreifen? Das war doch nicht möglich. Ich schloss die Augen und verdaute diese Neuigkeit. Die Einwohner des Gezeitenreiches schwebten in größerer Gefahr, als ich es für möglich gehalten hatte. Doch was hatte das für eine Bedeutung? Neor war tot. Meine Heimat war kein Ort mehr. Sie war ein Mädchen, das entführt worden war und das ich wiedersehen wollte.
»Ihr lasst sie im Stich.« Kopfschüttelnd verschränkte ich die Arme. »Das kann ich nicht akzeptieren.« Mein Blick schweifte von den Männern, die im Schwarzen Markt gewesen waren, über den Alten und zurück zu Arnen. Kräftig schlug das Herz in meiner Brust. »Ihr wollt eure Leben nicht riskieren. Das kann ich von keinem verlangen.« Fahrig krallte ich die Finger in den Stoff meines Hemdes. »Aber mein Leben kann ich geben. Helft mir und ich werde alles tun.«
»Saki.« Arnen seufzte, doch Runguhm hob die Hand.
»Kindra ist eine weitere Energiequelle für die Goldmagier. Sie bringt den König seinen Zielen wieder ein Stück näher.«
Eine Stille senkte sich über die Anwesenden in der Höhle.
»Die Auswahl«, sagte Runguhm, nachdem seine Worte gewirkt hatten, und fixierte mich. »Alle paar Jahre werden Jungen aus den Dörfern für die Garde des Königs rekrutiert. Wärst du bereit, dein Leben im Gezeitenreich aufzugeben und als Junge der Eisendynastie dein Leben der Garde des Königs zu verschreiben?«
Alle Blicke wanderten zu mir. »Die Armee des Königs?«
»Es bringt dich zu ihr an den Hof. Ob du an sie herankommst, ist dennoch fraglich. Aber es wäre ein Anfang