Walk by FAITH. Felicitas Brandt

Walk by FAITH - Felicitas Brandt


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Nowak wusste, was ein Avenger war? Ich selbst wusste es erst seit wenigen Wochen, seit ich meinen Kopf aus der Universitätsblase gesteckt und angefangen hatte, an dem Leben der Außenwelt teilzunehmen. Zumindest an dem Teil, der mit einem Netflix-Passwort zu erreichen war.

      Seufzend ließ ich mich auf das Sofa fallen. Das Zimmer war schön, wirklich schön. Und riesig. Unendliche Weiten im Vergleich zu der Streichholzschachtel, in der ich bis vor Kurzem noch am Campus gewohnt hatte. Aber es war meine Streichholzschachtel gewesen.

      Tante Fiona hatte sich mit dem Einrichten viel Mühe gegeben. Die größten Wände waren staubgrau gestrichen worden, die anderen weiß, ebenso wie die Decke, was der dunkleren Farbe ihre Strenge nahm. Der Boden war mit Laminat in unterschiedlichen Grautönen bedeckt, hier und da unterstützt von einem flauschigen Teppich in hellem Rosa. Die Couch und die zwei kleinen Sessel bildeten einen gemütlichen Wohnbereich. Durch einen großen Kleiderschrank und einen Vorhang wurde ein Teil des Raumes für den Schlafbereich abgegrenzt. Der Schrank war riesig. Ich hatte nicht ansatzweise genug Klamotten mitgebracht, um ihn zu füllen, aber das war mir egal. Viel brauchte ich hier eh nicht – den Fernseher interessierte es schließlich nicht, ob ich das T-Shirt schon einmal angehabt hatte oder ob es von einem Schokoladenfleck geziert wurde.

      Doch das Coolste an dem Zimmer war das breite Fenster. Es war wie in dem Film, in dem Hugh Jackman aus der Vergangenheit in die Gegenwart reist und auf Meg Ryan trifft, die in dieser Wohnung lebt, wo ihr Bruder dauernd über die Feuerleiter durchs Fenster einsteigt. Meine Mutter liebte diesen Film und wir hatten ihn mindestens ein Dutzend Mal geschaut. Die Leiter hier sah aus, als wäre sie noch nie benutzt worden. Es war zwar nicht so, als würde ich Besuch erwarten, aber ich fand das ganze Setting trotzdem unglaublich cool und besonders. Die Leiter hatte eine kleine Plattform und war umrahmt mit einem schwarzen Eisengitter, sodass der Platz gerade so für zwei Klappstühle gereicht hätte. Meine Wohnung an der Uni war direkt unter dem Dach gewesen, mit wenig Fenstern und gar keinem Balkon. Dafür aber mit einer anstrengenden Mitbewohnerin. Mit dem Zimmer hier hatte ich mich wirklich ordentlich gesteigert.

      Ehe meine Gedanken weiter zurück zur Universität und damit zu meinen ziemlich deprimierenden letzten Monaten kriechen konnten, schnappte ich mir die Einkaufstüte und kippte sie auf dem Sofa aus. Weingummi, Salt&Vinegar-Chips und Flauschsocken mit kleinen Katzen-Emojis darauf kamen zum Vorschein.

      In Windeseile schlüpfte ich in etwas Bequemeres und verzog mich mit meinem Laptop aufs Sofa. Das Bad verschob ich auf später. Auf meinem Handy entdeckte ich ein paar neue Nachrichten: eine von meiner Schwester, zwei von meinen Eltern, die meisten von Leuten von der Uni. Vor allem meine Mitbewohnerin Laureen verlangte nach Aufmerksamkeit und fragte mich, wann ich endlich zurückkommen würde. Ihr Tonfall steigerte sich von genervt zu aggressiv und ich klickte ihren Chat weg, ohne die Nachrichten ganz zu lesen. In meinen Mails waren Einladungen zu Veranstaltungen an der Uni, Erinnerungen an Kurse, für die ich mich eingetragen hatte.

      Hatte.

      Vergangenheit.

      So wie in „veränderter Zustand“.

      So wie in „Ich war durchgedreht und hatte mein Jurastudium geschmissen“.

      So wie in „Versager“.

      Seufzend ließ ich mein Handy auf das Sofa fallen und startete die nächste Folge der Serie, die ich gerade schaute: Sherlock. Benedict Cummerbatch war definitiv etwas, was ich verpasst hatte. Doch ich konnte mich weder auf die Worte noch auf die Bilder konzentrieren. Unablässig kreisten die Gedanken durch mein Gehirn. Obwohl mich das Vorstellungsgespräch beinahe an den Rand einer Panikattacke getrieben hatte, so hatte es doch auch ein Loch in die Decke aus Melancholie und Traurigkeit gerissen, die mich seit Wochen umhüllte. Und durch das kleine Loch war etwas gekrochen, das sich fast wie Hoffnung angefühlt hatte. Der kleine Stupser eines möglichen Neuanfangs, die Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fragte mich immer noch, wo ich die Kreuzung zum Happy End verpasst hatte und stattdessen auf den Abgrund zugesteuert war. Was war nur schiefgelaufen, dass ich jetzt hier saß, in einer fremden Stadt, einer fremden Wohnung bei einer Tante, die mir einmal nahegestanden hatte, die ich aber in den letzten Jahren nur von Weihnachten und Geburtstagen kannte?

      Die Antwort war recht einfach: alles.

      Es hatte schleichend angefangen, beinahe unbemerkt. Und dann war es irgendwann nicht mehr zu übersehen gewesen. Das Studium hatte mich fest im Griff gehabt und jede Sekunde meines Alltags bestimmt. Dann der Anruf meines Vaters. Omas Tod. Das alles hatte mich wie eine Betonkugel getroffen und aus der Bahn geworfen. Fast zwei Wochen war ich im Bett geblieben, bis meine Eltern einen Plan zu meiner Rehabilitation gefasst hatten – der schließlich hier in meinem Exil geendet hatte.

      „Komm schon, Val. Das reicht mit dem Selbstmitleid“, befahl ich mir selbst und richtete mich auf. Die Handlung der Folge war mir mittlerweile ein totales Rätsel und ich klickte mich gerade wieder zum Anfang zurück, als mein Handy vibrierte. Als ich es endlich aus einer Sofaritze hervorgekramt und entsperrt hatte, erschien eine Zeichnung von einem Glas Nutella, worüber in fetten Buchstaben stand:

       Wenn du denkst, es geht nicht mehr, löffel das Nutella leer.

      Auf dem nächsten Bild blickte mir ein zwölfjähriges Mädchen mit süßen Zöpfen und großen Augen entgegen, das ein Nutellaglas neben sein Gesicht hielt. Unwillkürlich lachte ich und drückte auf Videoanruf. Die Verbindung brauchte einen Moment, aber dann ertönte die unverwechselbare Stimme meiner kleinen Schwester Jude. „Hey, Valli.“

      „Hallo, Krümel“, begrüßte ich sie liebevoll. „Was bedeutet die Kalorienbombe?“

      „Mathe ist ein gemeines Mistvieh“, seufzte Jude dramatisch und begann, das Glas in ihrer Hand aufzuschrauben. „Ehrlich, wofür genau braucht man das noch gleich?“

      „Um groß und schlau zu werden und die Welt zu beherrschen“, gab ich altklug zurück.

      „Pff, ich will die Welt gar nicht beherrschen“, erwiderte meine Schwester in einem ähnlichen Tonfall. „Wenn ich groß bin, werde ich einfach irgendetwas, was nichts mit Zahlen zu tun hat. Und schon habe ich ein Problem weniger.“ Sie zuckte mit den Schultern und brachte mich erneut zum Lachen. Das Bild wackelte, als Jude den Deckel des Glases beiseitelegte und ich erkannte, dass meine kleine Schwester in unserer Küche am Tisch stand. Genau über ihr an der hellgrün gestrichenen Wand stand in weißer Schrift der Lieblingsbibelvers unserer Mutter: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Hab keine Angst, denn ich bin dein Gott. Ich helfe dir.“

      Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ganz automatisch hielt ich Ausschau nach unseren Eltern. Pa war sicher noch auf der Arbeit, aber meine Mutter war eigentlich immer da, wenn Jude aus der Schule nach Hause kam. Und jetzt war es ja schon deutlich später.

      „Bist du ganz allein?“ Ich bereute die Worte noch in derselben Sekunde, in der ich sie ausgesprochen hatte.

      „Mami ist im Wohnzimmer. Willst du sie sprechen?“

      Ich schluckte, setzte zu einer Antwort an und schüttelte dann doch nur den Kopf. Judes Augen wurden traurig. Mit zwölf Jahren war es nicht gerade leicht, wenn die große Schwester sich mit den Eltern zerstritten hatte. „Tut mir wirklich leid, Krümel“, flüsterte ich.

      Sie bemühte sich um ein tapferes Lächeln. „Ist schon gut. Kommst du nach Hause irgendwann?“

      „Irgendwann.“ Ein schmerzhafter Stich durchzuckte mein Herz. „Ich brauche noch etwas Zeit, okay?“

      „Du fehlst mir.“

      Ich presste die Lippen aufeinander und hoffte, dass sie nicht erkennen konnte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. „Du fehlst mir auch, Krümel“, presste ich hervor. „Du hast ja keine Ahnung, wie sehr.“

      Sie setzte zu einer Antwort an, doch dann schien sie etwas zu hören und drehte den Kopf. Das Handy folgte der Bewegung und ich erhaschte einen Blick auf den Türrahmen, in dem eine Frau Mitte vierzig stand. Eine Frau, die die gleiche Haarfarbe hatte wie ich. Für einen Moment starrte ich meine Mutter an und sie erwiderte meinen Blick. Dann wurde das Display dunkel. Jude hatte den Anruf beendet.

      Das


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