Walk by FAITH. Felicitas Brandt
Sein „Hey, Snoopy“, ließ mich noch einmal stocken und einen fragenden Blick über die Schulter werfen.
„Heute Abend ist Open Mic Night, das heißt, jeder, der möchte, darf auftreten. Schau doch vorbei. Deine Freigetränke sind noch offen.“
Jayden
Sein Blick wanderte über die Buchseite, aber die Worte drangen nicht bis in sein Gehirn vor. Zum wiederholten Mal blätterte er zum Anfang der Szene zurück, in der Frodo auf Gandalfs Geheiß hin das Auenland verließ, nicht ahnend, dass sich mit dieser Reise alles ändern würde. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, den ersten Teil des Herrn der Ringe noch einmal zu lesen, aber momentan sah es nicht danach aus, als würde ihm das heute gelingen. Seufzend strich er sich die Haare aus dem Gesicht und blätterte vor, um zu sehen, wie viele Seiten das Kapitel noch hatte. Ein Tick, der andere Leute manchmal wahnsinnig aufregte.
Plötzlich schnipste jemand neben seinem Ohr unangenehm laut mit den Fingern. „Hey!“
Jayden hob den Kopf und sah seinen besten Freund Ty fragend an. „Hm?“
„Du hast mir kein bisschen zugehört, oder?“ Ty sah ihn prüfend an und schüttelte den Kopf. „Ich fasse es nicht. Hast du nicht mittlerweile alle Bücher auf dieser Welt durchgelesen?“
„Die Duden fehlen mir noch. Ich komme aber einfach nicht darüber hinweg, dass es mit dem Aal nicht weitergeht.“
Tys Augen verengten sich. „Du bist ja so unglaublich witzig.“
Jayden schenkte ihm sein schönstes Lächeln. „Danke.“
Im nächsten Moment trat jemand durch die Eingangstür des Balou ein und Jayden zuckte wie elektrisiert nach oben. Doch als er sah, dass es Tori war, sank er wieder zurück auf seinen Barhocker. Tori winkte kurz zu ihnen herüber und sprach dann weiter in ihr Telefon, während sie mit einer Plastiktüte bewaffnet in Richtung Küche verschwand. Jayden ließ seinen Blick durch den leeren Raum schweifen. Es war noch früh, mit Gästen war der Erfahrung nach erst in etwa einer Stunde zu rechnen. Genug Zeit für sein Buch. Genug Zeit zum Entspannen. Eigentlich.
Es dauerte einen Moment, bis er die Stille bemerkte. Ty hatte aufgehört zu reden und bedachte ihn stattdessen mit einem bohrenden Blick. „Sorry, was hast du gesagt?“, fragte Jayden und fuhr sich über die Augen. Er hatte letzte Nacht nicht viel geschlafen.
„Du bist gar nicht wegen dem Buch abgelenkt“, sagte Ty. „Du denkst an sie.“
Jayden gelang es gerade noch, ein schuldbewusstes Zusammenzucken zu unterdrücken. „Was meinst du?“
„Spiel nicht den Unschuldigen, Jay. Ich kenne dich! Du denkst an dieses Mädchen. Diese Vanessa.“
„Valerie“, verbesserte Jayden ihn und bemerkte im selben Moment, dass er in die Falle getappt war.
„Ha!“ Ty riss triumphierend die Faust nach oben. „Ich wusste es.“
Jayden verdrehte die Augen. „Kindskopf.“ Und wenn schon. Ja, möglicherweise hatte er kurz an das Mädchen gedacht, dem er jetzt schon zwei Mal innerhalb von zwei Tagen begegnet war. Valerie. Bei ihrem ersten Treffen hatte er ihr vor Sorge um Tori zunächst nicht viel Beachtung geschenkt. Doch dann hatte sie diesen Blick gehabt, der zeigte, dass sie sich in dieser Situation zwar gerade sehr unwohl fühlte, aber durchaus bereit war, ihm die Stirn zu bieten. Das hatte ihn neugierig gemacht.
„Jay!“ Dieses Mal begnügte Ty sich nicht mit einem Schnipsen, sondern rammte ihm seine Faust gegen die Schulter.
„Hey“, protestierte Jayden. „Was soll denn das?“ Ty schlug noch einmal zu und Jayden wich zur Seite aus.
„Ich versuche, dich wieder zur Vernunft zu bringen.“
„Durch Schläge?“ Jayden blockte den Angriff seines Freundes und schlug zurück. Die Bewegung brachte Erinnerungen mit sich, die er nicht sehen wollte. Wut begann augenblicklich in ihm zu brodeln, er konnte nichts dagegen tun. „Hör auf damit!“
„Warum denn, hm?“ Ty kam näher, umging völlig gelassen Jaydens Deckung und traf erneut. Es waren keine festen Schläge, eher neckend. Doch das machte Jayden nur noch wütender – und Ty wusste das ganz genau! Schließlich war das der Grund für die zahlreichen Stunden, die sie auf den Matten im Fitnessstudio gegeneinander verbracht hatten. Die Wut, die ihn manchmal so fest packte, dass er förmlich blind zu werden schien. Im nächsten Moment spürte Jayden, wie sich etwas heimtückisch hinter seinen Knöchel einhakte und zu Boden riss. Es krachte und der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, doch wirklich verletzt war nur sein Stolz. Wütend sah er nun zu Ty hoch. „Zufrieden, oh großer Meister?“, blaffte er und unterdrückte den Drang, den Stuhl neben sich zu packen und seinem besten Freund über den Kopf zu ziehen. Atme, befahl er sich selbst. Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit. Der Druck in seiner Brust ließ nach, mit jedem Wort, das er sich aufsagte, jedem Atemzug, der die Buchstaben begleitete. Er hatte den Bibelvers vor Jahren entdeckt und nutzte ihn noch immer, um sich in manchen Situationen zu beruhigen. Jayden zog noch einmal tief die Luft ein und rappelte sich dann hoch. „Ja, ich habe an sie gedacht. Und? Ist das ein Verbrechen?“
Ty schüttelte den Kopf. „Jay, du kannst das Mädchen nicht in unseren Sumpf mit hineinziehen. Das ist viel zu gefährlich und das weißt du auch. Vergiss sie! Sonst bringst du sie noch um!“
4
Cranberrys und Katzentatzen
Open Mic Night – anfangs wollte ich nicht hingehen. Aber andererseits hatte ich auch keine Lust auf einen weiteren Abend mit mir und dem Laptop. So sympathisch mir Herr Cumberbatch auch war. Also schlüpfte ich in eine saubere Jeans und meinen schwarzen Lieblingspulli, schnappte mir meinen Rucksack und meinen aktuellen Lieblingsschal – grau mit Punkten – und machte mich auf den Weg. Da Tante Fiona wie angekündigt noch arbeiten war, kam ich ohne Angabe eines Ziels davon. Glück gehabt! Eine Nichte, die sich abends in einer Bar herumtrieb – auch wenn es eine Bar mit Instrumenten an der Wand und einer guten Atmosphäre war –, passte nicht so wirklich zu dem Image meiner Lebensretter-Tante. Vor allem, da es sich bei der Nichte um jemand mit einem leicht labilen Hintergrund handelte.
Ein sanfter Maiwind tanzte durch die Straßen Berlins, trieb die Musik und das Lachen aus den Cafés, Bars und Restaurants vor sich her. Ich stellte fest, dass ich die Stadt am Abend lieber mochte und mit einem Lächeln in die Bahn stieg und durch die Straßen lief. Ohne Handynavi. Weswegen ich mich auch prompt verlief. Ernüchtert und mit den freundlichen Hinweisen einer Dame, die eben ihren Blumenladen abschloss, erreichte ich schließlich das Balou. Musik drang mir entgegen, ein paar Frauen tanzten sogar vor der Bar auf der Straße und vorsichtig schob ich mich an ihnen vorbei. Drinnen war es unglaublich voll. Überall sah ich, wie Menschen lachten, tanzten oder sich unterhielten. Auf der Bühne neben dem Klavier stand ein rothaariges Mädchen im kleinen Schwarzen und sang. Sie sah aus, als wüsste sie, was sie tat. Und sie klang auch so.
„Du bist gekommen!“ Eine kleine Person mit lilafarbenen Haaren stürzte auf mich zu und riss mich mit der Kraft eines Grizzlybären in eine Parfümwolkenumarmung. „Oh du meine Güte, ich bin so froh! Jayden meinte, dass er dich heute Morgen gesehen hat, und ich hab mich so geärgert, dass ich nicht da war, weil ich mich doch bei dir bedanken wollte für du weißt schon was, obwohl du bestimmt sagen wirst, dass es nichts gibt, wofür ich mich bedanken müsste, weil du eine von diesen unfassbar netten Personen bist, die fremde Männer anrempeln und beschimpfen, nur weil sie ein anderes und dir völlig unbekanntes Mädchen umgerannt haben, aber ich sage dir, das war eine unfassbare Heldentat und das Liebste, was jemand jemals für mich gemacht hat, zumindest fast, und darum gehört dir mein unaussprechlich größter Dank!“ Tori – denn niemand anderes war es, die da meine Privatsphäre missachtete und ohne Punkt und Komma auf mich einquatschte – rückte nun ein Stück ab und sah mich strahlend an. „Aber ich konnte mich ja noch