Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben. Rolf Rojek
nirgendwo zu sehen. Puh, Glück gehabt. Den Blödsinn habe ich scheinbar nur geträumt.
Ich ging also wieder rein und setze mich zu Gudrun an den Frühstückstisch, die gerade in der BILD am Sonntag blätterte. Ich versuchte so normal wie möglich zu sein. So normal, als wäre gestern überhaupt nichts „unnormales“ passiert. Warum auch, es war ja scheinbar nichts passiert und so viel hatte ich nun auch nicht getrunken. Ich erzählte Gudrun, dass mein Fahrer gestern einfach abgehauen ist und ich deshalb nicht sofort nach Hause kam. Ich sagte ihr auch, dass ich ihr eigentlich ein paar Frikadellen mitbringen wollte, das Essen aber in der Kneipe liegengelassen habe. Das kann ja schon einmal passieren, jeder vergisst mal etwas. Gudrun sagte nichts, aber sie sah mich an. »Und dann bin ich auch direkt nach Hause gelaufen«, erzählte ich weiter. Da der Tag auf Schalke so anstrengend war, bin ich wohl auch im Sessel eingeschlafen.
Ich habe unruhig geschlafen und komische Sachen geträumt. »Stell dir vor«, sagte ich, »Ich habe geträumt, ich bin mit dem Fahrrad von Gelsenkirchen zurückgefahren.« Gudrun biss in ihr Brötchen und sah mich mit einem Blick an, der mich sehr nervös machte. Sie glaubt mir nicht. Zum Glück bimmelte in diesem Augenblick das Telefon. Ich ging dran und am anderen Ende war Marion. Marion lebte mit ihren Mann Fritz erst seit kurzer Zeit in Saerbeck, beide waren Schalker und bereits Mitglied in unserem Fan-Club. Die beiden waren nett, auch wenn ihr Mann Fritz immer eine große Schnauze hatte. Er konnte alles, er wusste alles und er hätte auch alles schon längst gemacht, wenn er mehr Zeit hätte. Marion konnte einem manchmal schon leidtun, aber irgendwie war sie ihm trotzdem immer eine gute Frau. Es gab nur ein Problem: Fritz war ein bisschen eifersüchtig auf mich, denn Marion und ich verstanden uns gut, sie rief mich öfters an und wir haben auch im „Dorfkrug“ häufig zusammengesessen und über Gott und die Welt gequatscht. So auch gestern Abend. Nur daran konnte ich mich gar nicht mehr erinnern.
An der Art wie Marion mit mir redete, merkte ich, dass Fritz neben ihr stand und zuhörte. Sie fragte mich, ob ich gestern etwas Auffälliges am „Dorfkrug“ gesehen habe. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Was Auffälliges?«, fragte ich sie.
»Ja, fremde Leute zum Beispiel«, sagte Marion und fügte hinzu: »Du wirst es nicht glauben Rolli, aber wir haben uns zwei nagelneue Fahrräder gekauft und waren damit gestern unterwegs. Am Abend sind wir mit den Rädern zum Dorfkrug gefahren und als wir die Kneipe verlassen haben, war mein Fahrrad weg. Fritz meinte, da du das Vereinslokal vor uns verlassen hast, müsstest du die Diebe vielleicht gesehen haben.« Mein Blutdruck stieg und ich bekam einen feuerroten Kopf. Gott sei Dank, konnte Marion mich nicht sehen. »Was?«, rief ich empört, »Die haben dein Fahrrad geklaut! Wo gibt es denn sowas?« In meinem Magen grummelt es schon wieder und Marion erzählte weiter, dass die beiden sich gestern Abend sofort auf die Suche nach dem oder den Dieben gemacht haben. »Du wirst es nicht glauben, aber wir haben mein Fahrrad an der Bushaltestelle in Richtung Greven gefunden«, sagte sie plötzlich. Oh ja, ich kenne die Bushaltestelle, diese befindet sich genau entgegengesetzt von unserem Haus. Hm, war ich das dann also doch nicht, fragte ich mich in Gedanken selbst.
Marions Stimme wurde auf einmal leiser und sie flüsterte ins Telefon. »Rolli, du alter Sack. Fritz ist gerade rausgegangen, um eine zu rauchen. Ich habe das Rad nicht an der Bushaltestelle gefunden, sondern neben eurem Haus in der Garageneinfahrt. Du hast mein Fahrrad gestern Abend im betrunkenen Kopf mitgenommen. Ich habe es Fritz anders erzählt, damit ihr beide euch nicht wieder streitet, er war sowieso schon wieder sauer und hatte dich als Dieb im Kopf.« Ach du Scheiße, dachte ich, was bin ich doch für ein Blödmann. Ich wollte gerade eine große Erklärung abgeben, als sie sagte: »Ach, da kommt ja mein lieber Mann wieder. Nein Fritz, wir brauchen keine Polizei anrufen, auch Rolli hat nichts gesehen und mein Fahrrad habe ich ja wieder. Also, alles ist gut!« Alles ist gut? überlegte ich. »Ja, alles ist gut, wir telefonieren morgen noch einmal«, sagte ich zu Marion und wir beendeten das Gespräch.
Was für ein Wochenende. Aber so ist das manchmal, wenn Schalker auf Reisen gehen. Da kann immer etwas Dummes passieren. Man sollte allerdings aus seinen Fehlern lernen, so wie ich. Ich werde meinem Kumpel bei der nächsten Fahrt auf Schalke den Autoschlüssel wegnehmen, damit er sich nicht still und heimlich aus dem Vereinslokal schleichen kann …
»Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.«
(Albert Einstein)
1990 – Die Fan-Kneipe „Auf Schalke“.
Wenn ich früher für eine Veranstaltung oder eine Busfahrt Getränke holen musste, ging ich immer zum Bierverleger meines Vertrauens, Wilfried Hövelmann. Bei Wilfried erhielt ich die Ware auf Kommission, und das zu einem verdammt guten Preis. Außerdem konnte ich jederzeit auf einen Kaffee und ein Pläuschchen zu ihm ins Büro kommen. Wir quatschten über alles, worüber Männer eben gerne quatschen – obwohl sie meist keine Ahnung davon haben. Daher war es auch verständlich, dass Fußball, und besonders der FC Schalke 04, eines unserer Lieblingsthemen war.
Irgendwann muss ich Wilfried in einem Gespräch erzählt haben, dass ich eine Kneipe in Gelsenkirchen suchte, in der ich mich mit Fans und Fan-Clubs treffen und Veranstaltungen abhalten könnte. Denn bisher habe ich mich an fast jedem Wochenende mit irgendwelchen Fan-Clubs in Gelsenkirchen in deren Vereinskneipen getroffen, um dort die Versammlung abzuhalten. Natürlich wollten mir die Fan-Clubs immer das Bier bezahlen, aber meist wollte ich das gar nicht und habe mein Bier und meine Bratwurst selbst bezahlt. Von meinen Gästen aushalten lassen? Auf keinen Fall! Und so kam es, dass ich am Monatsende fast immer einen stattlichen Bewirtungsbetrag vorzeigen konnte.
Als ich eines Tages wieder einmal bei Wilfried einen Kaffee schnorrte, sagte er beiläufig zu mir »Ach ja Rolf, kannst du nächste Woche zu einer Besichtigung vorbeikommen? Ich habe hier in Gelsenkirchen eine tolle Kneipe für dich. Und das Schöne: die Kneipe ist groß und liegt direkt im Stadtteil Schalke. Da kannst du dich, so oft du willst, mit deinen Fan-Clubs treffen und austoben.« Das hört sich doch ganz gut an, dachte ich. Wenn ich mit dem Pächterehepaar klarkomme, wäre das optimal. Wir machten also guter Hoffnung einen Termin für die Besichtigung aus.
Zu dieser Zeit wohnte ich noch in Saerbeck, einem kleinen Dorf im schönen Münsterland, etwa 104 km vom Parkstadion entfernt. Da ich immer viele Termine auf Schalke und mit Fan-Clubs hatte, fuhr ich die Strecke Saerbeck-Gelsenkirchen-Saerbeck mehrmals pro Woche. Eine gute Terminplanung war also sehr wichtig. Auch wenn ich es sonst zumindest immer versucht habe, pünktlich bei meinen Terminen zu erscheinen, bin ich nicht zur Besichtigung der Kneipe erschienen. Ich hatte mich auf Schalke festgequatscht und ganz ehrlich, so ernst habe ich den Termin nun auch nicht genommen. Und das Pächterehepaar musste wahrscheinlich eh vor Ort sein und in der Kneipe arbeiten …
Als mich Wilfried anrief und fragte, wo ich bleibe, entschuldigte ich mich und sagte ihm, dass ich auf Schalke festsitze. »Schade, alle sind da und wir warten auf dich« war seine Antwort. Moment mal, »Alle?«, fragte ich. »Wer sind alle?« Wilfried klärte mich auf. Die derzeitige Wirtin, der Hausbesitzer, die Vertreter der Krombacher Brauerei und der Vorsitzende des Sparclubs waren zu dem Termin gekommen, um mich kennenzulernen und mit mir zu sprechen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, entschuldigte mich und machte einen neuen Termin aus. Eigentlich, so dachte ich, schaue ich mir nur eben die Räumlichkeiten an, quatsche mit der Wirtin und bespreche die Einzelheiten für die Versammlungen. Fertig. Wie auch immer, der neue Termin war ein paar Tage später.
Ich war fast pünktlich, fast. Denn ich bin ein großer Fan von Pünktlichkeit, aber leider nur bei anderen. Mit einer halben Stunde Verspätung stand ich also vor der angegebenen Adresse. Mein erster Gedanke: Oh Gott, wo bin ich denn hier gelandet? Die Kneipe war in einem Eckhaus. „Gaststätte Jägerhof“ stand auf meinem Zettel, Uechtingstraße 98 (Ecke Wilhelminenstraße). Ich schaute noch einmal auf den Zettel, dann auf die Hausnummer an dem Eckhaus. Ja, das war die besagte Kneipe. Ich war also an der richtigen Adresse.
Eine kurze Erklärung von mir: In der Gegend wohnten die Ärmsten der Armen und die Polizei kam nur hierher, wenn sie gerufen wurde, und zwar mit einem Mannschaftswagen. Und das war nicht selten der Fall …
Mein erster Eindruck war also ein klares