Angriff von Rechtsaußen. Ronny Blaschke
Und er weicht in die sozialen Netzwerke aus. Bei StudiVZ und Facebook haben die Blue Caps ihre eigene Diskussionsgruppe – aus Datenschutzgründen dürfen die Unternehmen nur bei einem begründeten Verdacht Nachrichten einsehen.
Aufruf im Netz: Enrico Böhm wirbt auf seiner Internetseite für rechtsextreme Demonstrationen.
Am liebsten mag es Böhm, wenn er nicht suchen muss, sondern gefunden wird. Wie im Fall des jungen Tobias Zilke, der in Wahrheit anders heißt. Auch Zilke ist Fan von Lokomotive Leipzig, er hat unzählige Heimspiele besucht. Zilke ist ein schmächtiger Junge, trägt eine Brille, in seinem Gesicht wuchert Akne. Er sagt, seine Mutter habe vier Kinder allein groß gezogen, das müsse man erstmal schaffen. Im Frühjahr 2008 schreibt er Böhm in einem Fanforum zum ersten Mal an, er ist beeindruckt von den Blue Caps, er möchte zu ihnen gehören. Fast täglich schicken sich Böhm und Zilke in jener Zeit Nachrichten. Hat Zilke Potenzial für die Partei? Kann man ihn zum Wahlkämpfer ausbilden? Hin und wieder sendet Böhm ihm persönliche Fotos, auch von seinem neugeborenen Sohn. Das schafft Vertrauen. Böhm besorgt ihm Musik von rechtsextremen Bands, die in keinem CD-Laden angeboten wird, Bands wie Landser, Blitzkrieg, Zillertaler Türkenjäger. Die Liedtexte hätten ihm „die Augen geöffnet“, sagt Zilke. Er trägt ein T-Shirt in Schwarz-Weiß-Rot, den Farben der Reichskriegsflagge, darauf die Zeile: „So sind wir!“ Zilke sagt: „Die Deutschen haben ein gestörtes Nationalbewusstsein. Bei Lok darf ich stolz sein.“
Bei den Wahlen 3,7 Prozent
Zilke passt sich Böhmes Weltsicht an, hat schnell die Arbeitslosenquote unter Leipziger Ausländern parat, er kann hundert angebliche Argumente gegen eine multikulturelle Gesellschaft aufsagen. Im Juni 2008, da ist Zilke 16, bestellt ihn Böhme auf den Lindenauer Markt, einen belebten Kiez am westlichen Rand des Leipziger Stadtzentrums. Sie gehen gemeinsam in die Odermannstraße, wo der sächsische Landtagsabgeordnete Winfried Petzold ein Büro der NPD errichten lässt. Sofort wird Zilke eingespannt, verbringt seine Ferien als Helfer auf dem Bau. Die JN, die Jungen Nationaldemokraten, nehmen ihn als loses Mitglied auf. Alle zwei Monate erhält er von seinem Gruppenführer einen Plan mit Aufgaben: Sticker verteilen, Freunde gewinnen. Zeit hat Zilke im Überfluss. In diesem Sommer hat er die Realschule abgeschlossen, Notendurchschnitt 3,2. Er sucht nach einer Lehrstelle, er will zur Bundeswehr oder sich zum Gießer ausbilden lassen, vielleicht zum Berufskraftfahrer – einen Job findet er nicht. Nun plant er ein Berufsgrundbildungsjahr, eine schulische Überbrückung für Leute ohne Job. „Er wird seinen Weg gehen“, sagt Böhm. In seiner Stimme schwingt der Stolz eines großen Bruders mit.
Anfragen aus dem Umfeld des Fußballs erhält Böhm oft. Ein 15-Jähriger, der sich Bad Boy nennt, schreibt ihm: „Ich kämpfe für mein Vaterland und will noch mehr für mein Vaterland tun.“ Ein 14-Jähriger, der keinen Namen angibt, meldet sich mit den Worten: „Ich bin Patriot.“ Er zweifelt jedoch, für die JN geeignet zu sein. Mit seinen weiten Hosen und langen Haaren, schreibt er, wirke er eher wie ein Hip-Hopper. Es sind kurze Mitteilungen, schlichte Botschaften. Puzzlestücke, die Böhm zu einem Ganzen zusammenlegen will.
Wie soll der Fußball Rechtsextreme bekämpfen, die öffentlich kaum mehr auftreten? „Da sind wir überfordert“, sagt der Rechtsanwalt Klaus Reichenbach, seit Anfang der neunziger Jahre Präsident des Sächsischen Fußball-Verbandes. Im Februar 2007 muss er einen ganzen Spieltag absagen, weil Fans von Lokomotive Leipzig nach einem Pokalspiel 39 Polizisten verletzt haben. Damals organisiert Reichenbach Pressekonferenzen, lässt Plakate kleben, bezahlt Fortbildungen für Funktionäre. Und nun? „Was im Verborgenen geschieht, können wir als kleiner Verband mit ehrenamtlichen Kräften schwer beeinflussen.“ Früher, als die Rechtsextremen noch sichtbar waren, konnte man die Nazis von der Tribüne verbannen – aber aus dem Internet? Reichenbach spricht von der Verantwortung der Eltern, ihren Fehlern in der Erziehung. „Die Politik muss helfen, sonst wird der gesamte Sport gefährdet.“
Offensive gegen Rechts: Die linksalternative Fangruppe Diablos des Vereins BSG Chemie entwirft Choreografien, organisiert Ausstellungen, Lesungen, Konzerte.
An den Sport denken Remmler und Böhm kaum noch, er ist für sie Mittel zum Zweck. Sie wollen ihre Anhänger bei Laune halten. Am Nachmittag des 30. Mai 2009, einem Samstag, verschickt Böhm von einem Mobiltelefon ohne Vertragsbindung eine Sammel-SMS. „Wir wollen eine Rockallianz bilden und im Großraum Leipzig das System rocken“, schreibt er. Dazu eine Uhrzeit und einen Treffpunkt. Am Abend sammeln sich 300 Rechtsextreme aus Leipzig und Umgebung an einer Tankstelle an der Riesaer Straße, Stadtteil Paunsdorf. Auch die Polizei ist vor Ort, und so belässt es Böhm bei wenigen Worten. Er verteilt kleine Zettel mit einer Wegbeschreibung. Seine Gäste fahren los, zeitversetzt, auf verschiedenen Routen. Böhm wartet eine Weile, verschwindet dann in einer verwinkelten Kleingartenanlage. Bis er sich nach einer Stunde sicher ist, dass ihm niemand folgt.
Auf einem Privatgrundstück in Hohenmölsen, einer Kleinstadt am südlichen Zipfel Sachsen-Anhalts, treffen sie sich wieder, 40 Autominuten von Leipzig entfernt. Böhm veranstaltet ein Konzert mit rechtsextremen Bands. Ohne Anmeldung, ohne Gewerbeschein, ohne Brandschutzvorkehrungen. Nur der Vermieter der Halle kennt den Plan seit Tagen, als Tickets gelten die versandten SMS. Böhms Freundin betreut die Musiker, die Blue Caps übernehmen den Sicherheitsdienst und den Bierausschank. „Konzerte gehören zur Rekrutierungsarbeit“, sagt Böhm. „Und zum Wahlkampf.“ Tage später verschickt Böhm wieder eine SMS, diesmal mit Werbung. Er tritt Ende Juni 2009 zur Stadtratswahl in Leipzig an, die NPD hatte in Leipzig aus Mangel an Personal nie kandidiert. Den Gewinn des Konzerts in Hohenmölsen, rund 2.500 Euro, steckt Böhm in den Wahlkampf. Auf einem Girokonto würde er das Geld nicht ablegen, sagt er, niemand solle etwas über seine Finanzen wissen. Böhm bestellt Plakate und Aufkleber, in Blau und Gelb, den Farben des Fußballvereins. Auf der Internetseite der NPD preist er sich als potenzieller Retter der verblassenden Sportstadt Leipzig, und in seinem Wahlkreis erhält Böhm 1.466 Stimmen. Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben: ein rechtsextremer Fußballfan, ohne Erfahrungen in öffentlichen Ämtern, erreicht aus dem Stand 3,7 Prozent.
Den Fanklub Blue Caps hat Böhm binnen zwei Jahren in eine rechtsextreme Bruderschaft verwandelt. Wieder zeigt sich, dass eine homogene, hierarchische Gruppe leicht durch Einzelne beeinflusst werden kann. Geschult werden ihre Mitglieder im Leipziger NPD-Quartier, einem Haus mit heruntergelassenen Rollläden, umgeben von einem zwei Meter hohen Blechzaun, ohne Klingel und Türschild. Böhm nennt das Quartier „das Objekt“. Ein Anruf von Mitarbeitern des sächsischen Fraktionsvorsitzenden Holger Apfel genüge, sagt Böhm, um die Blue Caps in Stellung zu bringen. Sie streifen sich ihre dunkelblauen Kapuzenpullover über, auf deren Rückseite eine Hyäne die Zähne fletscht. Sie nehmen an Demonstrationen teil, treten als Ordner bei Veranstaltungen auf, als Sammler von Spenden. Gern zeigen sie ihr Transparent: „Lok-Fans gegen Links“. Die Blue Caps und ihre Sympathisanten erhöhen das Mobilisierungspotenzial der NPD in Leipzig um mehr als ein Drittel. In wenigen Stunden können rund 300 Neonazis für Kundgebungen und Aufmärsche zusammengezogen werden. Der größte NPD-Kreisverband Sachsens ist in Leipzig zu Hause. Entlohnt werden die Blue Caps für ihre Dienste nicht, die meisten Mitglieder gehen gewöhnlichen Berufen nach. Auf dem Bau, im Büro, in der Bundeswehr. Die Arbeitgeber ahnen nichts. Aber die Polizei beobachtet sie genau. Ein Ausflug der Blue Caps über die Elbe nach Pirna wird von einem Hubschrauber und dutzenden Polizisten begleitet.
„Die Deutschen haben ein gestörtes National-bewusstsein. Bei Lok darf ich stolz sein.“ Der Jugendliche Tobias Zilke lernt die Blue Caps im Internet kennen und übernimmt ihre dumpfen Parolen.
Fußball unter Polizeischutz: Regelmäßig werden Lok-Partien zu sogenannten Risikospielen.
Ein rechtsextremer Fanklub, dessen Mitgliederzahl zwischen 20 und 30 schwankt, wird durch solche Aktionen zu einem regelmäßigen Gesprächsthema in der Stadt – und darüber hinaus. „Im Kern geht es Neonazis