Prinzessin Christine. Helle Stangerup
Bereitschaft, Steuern zu zahlen, und einem zunehmenden Einfluß der Ketzerei. Außerdem mußte er sich den lästigen, ungebetenen Gast vom Halse schaffen, den König von Dänemark, der die nördlichen Provinzen mit Freibeuterei und Seeräuberei unsicher machte.
Wenn er in seinem gewaltigen Reich wieder auf die Reise ging, würde die Person, die besser als jede andere geeignet war, die Aufgabe zu lösen, bereit sein. Es war seine jüngere Schwester Marie, und sie befand sich bei der Ankunft in Mechelen in seinem Gefolge. Der Kaiser hatte Marie schon in früher Jugend bewundert, und im Laufe der Zeit wurde sie der einzige Mensch, dem er denselben Respekt entgegenbrachte wie der nun verstorbenen Tante. Die Lektionen, die für ihn so schwer zu verstehen gewesen waren, wurden von Marie mit Leichtigkeit einverleibt.
Marie war die Witwe des Königs von Ungarn, und sie sollte nun die Niederlande regieren, während er sich mit den Türken, den Franzosen, dem päpstlichen Stuhl und den deutschen Ketzern herumschlug. Karl V. stellte dem Stadtrat von Mechelen seine Schwester als die künftige Regentin vor.
Aber Marie hatte ihre eigenen Vorstellungen und Bedingungen. Sie drang darauf, daß ihr kein neuer Mann aufgenötigt werde, denn sie sei in ihrer ersten Ehe völlig glücklich gewesen und wolle keine neue eingehen.
Was auch immer sie damit meinte, der Kaiser beugte sich ihrem Wunsch.
Das nächste Problem waren die sogenannten »evangelischen Neigungen« von Marie, die der Kaiser nicht ernstnehmen konnte. Seine Schwester hatte stets gern Bücher gelesen und ließ sich leicht von neuen Ideen einnehmen. Doch sie hatte auch Erasmus und andere Humanisten studiert, und insofern war sie durchaus für die Aufgabe einer Regentin geeignet.
Sie stand zwischen zwei Gobelins im großen Saal des Rathauses, eine kleine, lebhafte, kinderlose Frau in schwarzer Witwentracht mit weißem Schleier, und der Kaiser war stolz auf seine Schwester. Aber dann kreisten seine Gedanken um das Problem mit dem König von Dänemark.
König Christian war eine Bürde. Er war eine Plage mit seinen Forderungen nach Geld und der Mitgift einer Frau, die längst gestorben war. Marie meinte, es wäre das beste, zu zahlen und ihn damit ein für allemal loszuwerden. Der Kaiser hätte gewünscht, daß Christian tot wäre. Und für ihn war er gestorben. Aber gleichzeitig mußte er sich dagegen verwahren, daß der Adel unehrenhaft dem Eid abschwor und einen König hinauswarf, um einen anderen zu krönen. Diese Art von Verrat konnte für die Fürsten ernste Folgen haben und durfte nicht zugelassen werden.
Je mehr der Kaiser überlegte, um so naheliegender schien ihm der zwölfjährige Prinz Hans als Lösung des nordischen Problems. Hatte der dänische Adel nicht einmal dem Wunsch Ausdruck verliehen, daß der Junge und seine Mutter in Dänemark blieben? Inzwischen war Elisabeth tot, aber der Prinz, der Erbe und rechtmäßige künftige Herrscher über die Reiche des Nordens, lebte. Er war in rechtem Glauben erzogen, vielleicht wollten ihn die Dänen immer noch. Und außerdem war der Prinz sein, des Kaisers, Neffe.
Der Kaiser betrachtete den ranken Knaben und strich ihm mit der Hand um das Kinn. Als Mensch empfand er beim Anblick des Jungen und seiner Schwestern Dorothea und Christine Wärme und Mitgefühl, doch als Kaiser ahnte er, daß ein Prinz, der die Fähigkeit besaß, sich im Alter von erst zwölf Jahren in fließendem Latein vorzustellen, auch größere Aufgaben würde meistern können.
Der Kaiser faßte ihm wieder ans Kinn und begann mit der schwierigen Kunst des Denkens.
Christine hatte ihre geliebte Tante verloren. Aber sie bekam eine neue. Die verstorbene Tante war die Schwester ihres Großvaters mütterlicherseits gewesen, die neue war die Schwester ihrer Mutter, aber schon am ersten Tag erkannten Christine und ihre Geschwister, daß eine völlig andere Tante vor ihnen stand.
Sie war schlank und jung, die andere alt und einnehmend. Sie zeigte ihnen keine Portraits, sondern fragte: »Wollt ihr mit auf die Jagd?«
Und dann stürmte sie los, um so rasch wie möglich hinunter zu den Pferden und den unten wartenden Höflingen zu kommen.
Wenn die neue Regentin der Niederlande ausritt, um Rotwild, Wildschweine oder Wölfe zu jagen, nahm es niemand mit ihr auf. Sie hielt es einen ganzen Tag im Sattel aus, ohne das geringste Zeichen von Müdigkeit zu zeigen, und amüsierte sich, wenn die Herren und Damen im Waldesdickicht und in den Dörfern nach ihr suchten. Langsam gewöhnten sie sich an den entfernten Anblick der schwarzen Kleider Ihrer Gnaden, die das Pferd umwehten, und wußten, daß sie stets als erste am Ziel und schneller als die anderen wieder zu Hause sein würde. Wenn die Begleiter ausgepumpt und erschöpft nach einem Tag im Sattel zurückkehrten, sagten sie zueinander, daß diese Reitlust der Herrin das Erbe der weiten ungarischen Flächen sei. Jedenfalls konnte es niemand mit Ihrer Gnaden auf dem Pferderücken aufnehmen. Die Kinder hatten eine so junge Tante bekommen, daß sie ebensogut ihre große Schwester sein konnnte. Sie setzte über Gräben, lenkte das Pferd in Kanäle und preschte in gestrecktem Galopp über aufgeweichte Äcker. Nichts konnte schnell genug gehen, nichts sie aufhalten. Für die Kinder war die Begegnung mit dem Kaiser ein besonderes Erlebnis, und sie empfanden es als ungeheure Ehre, als er den Arm um sie legte und seine Liebe ihnen gegenüber zum Ausdruck brachte. Natürlich hatte er Hans die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Christine und Dorothea waren stolz auf ihren Bruder, der eine Rede hielt, ohne steckenzubleiben. Sie würden auch gerne den Ratsherren, Adligen und Geistlichen frei und ehrlich Wünsche auf Lateinisch vortragen können.
Sie sahen den Kaiser in der Zeit, in der er im Lande war, nicht häufig, denn von ihrer neuen Tante wurden sie in ein turbulentes Leben hineingerissen. Wenn sich die Hofdamen darüber beschwerten, daß die Königin-Witwe gefährlich lebe, lachte sie unbeschwert, tippelte davon und sagte:
»Ich möchte mir nie vorwerfen lassen, auch nur eine Stunde auf dieser Erde nicht genossen zu haben.« Dann rief sie nach Monsigneur und Mesdames Dorotheé und Chrêtienne, ein Rudel Wildschweine sei im Wald beobachtet worden.
Das tägliche Leben ging weiter wie bisher. Dieselben Gesichter umgaben sie, nur Johanne jammerte jetzt über die zerrissenen Kleider der Mädchen nach den wilden Jagden.
Und Kiki war weg. Sie sahen sie nicht mehr. Am Abend nach dem Tod der alten Regentin verschwand sie spurlos, man hörte nichts mehr von ihr, und bald war sie von allen vergessen – nur von Christine nicht.
Christine hatte die Erinnerung an jene Szene in der Bibliothek verdrängen wollen. Aber die Worte der Zwergin ließen sich nicht aus ihrem Bewußtsein entfernen. Christine erzählte ihren Geschwistern nichts davon. Es war ihr Wissen und ihre Bürde, und daraus erwuchs für sie ein Gefühl, bestohlen worden zu sein, durch ein Unrecht der Wurzeln beraubt worden zu sein.
5. Kapitel
An einem frostigen, klaren Januartag des Jahres 1532 wurde in Brüssel auf dem Platz vor dem Haus des portugiesischen Gesandten ein Turnier abgehalten. Die Königin von Portugal hatte einen Sohn geboren, und das sollte gefeiert werden.
Von einem mit weißem und grünem Samt verkleideten Balkon schauten der Kaiser und seine Familie den vielen Späßen zu. Christine lachte über die Ritter in ihren Rüstungen, die vom Pferd geworfen wurden, sie starrte mit großen Augen auf die Feuerschlucker und Schwerttänzer, und rund um sie klatschte das Volk vor Begeisterung. Der ganze Markt war voller Flaggen und Banner, und während die Trompeten gellend eine neue Attraktion ankündigten, beugte sich Hans zu ihr und flüsterte: »Ich habe eben erfahren ...« Er schielte zu seiner Tante und wandte sich wieder Christine zu: »Unser Vater ist vor einem Monat in Norwegen gelandet, die Norweger jubelten ihm zu. Sie haben ihren Eid auf ihn als ihren König erneuert.«
Bären kamen auf den Platz. Christine schaute starr vor sich hin, und Hans sagte: »Es ist wahr. Vater hat bereits eines seiner Reiche wiedererobert, und ich bin da oben erbberechtigt.«
Christine bewahrte ihren interessierten Gesichtsausdruck, sie war schon zu reif, um zu vergessen, wer sie war und daß sie die Pflicht hatte, die Fassung zu wahren. Sie war die Nichte des Kaisers und der Regentin, aber auch nicht mehr. Seit dem Tag in der Bibliothek vor mehr als einem Jahr versuchte sie zu vergessen, was sie über ihren Vater erfahren hatte. Der Mann, dessen Blut in ihren Adern pulsierte, hatte um des Geldes willen den Glauben gewechselt, er plünderte, bettelte, log und köpfte den