Prinzessin Christine. Helle Stangerup
zur Erziehung an den Französischen Hof geholt.«
»Und diese ...«
Sie holte tief Luft. »Und diese Anna Boleyn ist auch dort aufgewachsen, und das lernt man also an diesem Ort.«
Der Kardinal saß mit offenem Mund da, während die Regentin gebieterisch eine Hand hob. »Ich weiß, wir haben jetzt Frieden mit den Franzosen, aber ich bin eine alte Frau, und mir steht eine Meinung zu, und diese Boleyn-Mädchen sind ein Pack.«
Sie drehte ihr Gesicht dem Kardinal zu: »Der König hat ja die ältere inzwischen satt, wann wird er wohl genug davon haben, mit der Jüngeren zu huren?«
Christine hörte auf, mit den Zehen zu wackeln, denn da war wieder das Wort, das sie nicht richtig verstand.
Der Kardinal sah bedrückt aus und antwortete so leise, daß Christine es nicht hören konnte. Außerdem kam Bewegung in die Diener, der Braten war gegessen, die Teller wurden hinausgetragen und für das Geflügel andere hereingebracht. Die Wacholderzweige, die in die Flammen geworfen wurden, verbreiteten einen würzigen Duft. Die Fackeln flackerten immer noch und warfen Muster aus Licht und Schatten auf die Gobelins und die rot verputzten Wände, als die Stimme des Kardinals erklang: »Man befürchtet, daß der König sie heiratet, falls sie schwanger wird. Das ist kein Traum mehr, das ist Besessenheit. Der König von England will einen Sohn haben.«
Die Stimme der Regentin klang weich: »Aber er hat doch eine fromme und tugendhafte Tochter, die überdies volljährig ist.«
»Nur ein Prinz ...« Der Kardinal nahm ein Stück Ente. »Nur ein Prinz kann Englands Zukunft sichern.«
Er stopfte das Fleisch in den Mund, erkannte die Stille und sagte, so deutlich er es mit vollem Mund vermochte: »Meint jedenfalls der König von England.«
Während Christine damit kämpfte, die Finger in die Soße zu tauchen und so zum Mund zu bringen, daß ihr nichts davon in den Ärmel lief, sagte die Regentin scharf: »Kastilien hat eine Frau als Erbe übernommen, und meine selige Mutter erbte Burgund, und im übrigen ...«
Die Regentin lächelte und legte ihre Hand auf den roten Ärmel des Kardinals: »König Heinrich VIII. verdankt schließlich die Krone seiner Mutter, Elisabeth von York. Wer ist schon dieser Richmond?«
Beim letzten Satz erstarrten alle am Damentisch, der englische Gesandte saß nur fünf Plätze von der Regentin entfernt und hatte jedes Wort gehört.
Es wurden nun riesige Schüsseln hereingetragen, gefüllt mit glasierten Früchten, Apfelsinen und Pfirsichen, aus Spanien gekommen, Bananen, Datteln und Feigen aus Nordafrika. Doch alle Blicke waren auf den kleinen Engländer gerichtet, der einfach weiteraß und keine Reaktion auf die Beleidigung zeigte.
»Der Kaiser würde Prinzessin Mary von dem Tag ihrer Thronbesteigung an seine volle Unterstützung gewähren«, bemerkte die Regentin.
»Darüber hegt mein Herr König nicht den geringsten Zweifel«, antwortete der Engländer und ließ den letzten Entenknochen in die Soße plumpsen. Er wischte sich den Mund ab und griff nach den Früchten.
»Und der König von England freut sich natürlich über diese Unterstützung«, erkundigte sich die Regentin. Der Engländer lächelte vor sich hin.
»Euer Gnaden können versichert sein, daß mein Herr alle Freuden, die ihm das Leben beschert, zu schätzen weiß.«
Es herrschte völlige Stille. Der Engländer genoß eine Dattel, leckte seine Zähne und ersuchte darum, einen Toast auf den Kaiser ausbringen zu dürfen. Die Regentin lächelte plötzlich, gestand dem Engländer diese Ehre zu, und man plauderte entspannt.
Die Mahlzeit neigte sich dem Ende zu, und Christine ließ sich all die neuen Eindrücke durch den Kopf gehen. Vieles von dem, was gesagt worden war, verstand sie nicht, spürte die scharfen, fast unfreundlichen Untertöne, fand das aber aufregend. Sie fühlte sich jetzt erhitzt vom Wein und auch ein bißchen müde vom langen Sitzen bei Tisch. Aber für den nächsten Morgen, wenn sie frisch und ausgeruht war, nahm sie sich vor, über jedes Wort nachzudenken, das sie an diesem Abend gehört hatte.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Am Vormittag trat die Regentin in die Scherben eines zerbrochenen Kristallbechers und mußte sofort zu Bett gebracht werden, um ernsthafte Blutungen zu vermeiden. Der Hofarzt sah nach ihr. Seiner Meinung nach bestand keine unmittelbare Gefahr, trotzdem wurden alle Geräusche in dem großen Haus gedämpft, und nicht einmal Dorothea fand etwas, worüber sie lachen konnte.
Am folgenden Tag kam eine Blutvergiftung dazu. Die Regentin wurde zur Ader gelassen, was aber ihren Zustand nicht verbesserte, ebensowenig wie die Kräuter, die vom Französischen Hof geschickt wurden. Fünf Tage kämpfte sie mit dem Tod, aber ihr Leben war nicht zu retten. Pater Antonius war bei der Kranken, die sich von allen verabschieden wollte, die ihr gedient hatten und die ihr nahestanden. Die Kinder wurden am Nachmittag hereingebracht, zuerst Hans, dann Dorothea und schließlich Christine.
Ihre Tante war so schwach, daß sie unfähig war, den Kopf vom Kissen zu heben. Sie hatte eine Nachtmütze auf dem stahlgrauen Haar und hob langsam eine Hand, legte sie Christine auf den Kopf und sagte: »Mein schönes Kind ...«
Ihre Stimme versagte, aber sie fuhr fort und rang um jedes Wort: »... der Kaiser wird sich um euch kümmern. Ihm sollt ihr stets gehorchen, und ...« Sie bewegte immer noch ihre dicke Unterlippe, aber es erklang nur noch ein schwaches Murmeln. Christine beugte sich zu ihr, Tränen liefen aus ihren Augen, und sie küßte die Hand der alten Dame, während sie flüsterte: »Ja, Madame.«
Am selben Abend, dem 30. November 1530, starb Margarethe von Österreich, Regentin der Niederlande und Christines zweite Mutter.
Im ersten Augenblick dachte Christine nur daran, wie Gott bloß Platz fand für all die Menschen, die er zu sich nahm. Dann läuteten die Kirchenglocken.
Die Nachricht vom Tod der Regentin verbreitete sich in der ganzen Stadt und zur nächsten und nächsten, Kuriere wurden in alle Welt geschickt. Es ging von Mund zu Mund, von Kirchturm zu Kirchturm, und Christine begriff auf einmal, was geschehen war. Ihre Tante war so klein, wie sie da in dem riesigen Bett lag, umgeben von weinenden Damen und Ärzten und Pater Antonius, der darauf wartete, ihr die letzte Ölung zu geben. Sie war noch am Leben gewesen, als Christine ihre Hand geküßt hatte. Wie sehr hatte Christine aus nächster Nähe den Tod und die Vergänglichkeit erlebt.
Christine wollte für sich sein, wollte sich verstecken hinter dem Vorhang ihres Bettes, um allein weinen zu können, aber die Damen warteten. Sie und die Schwester und der Bruder mußten zur Messe und folgten damit dem Wunsch der Verstorbenen, daß die Kinder keine freien Stunden haben sollten, die ohnehin nur zu Mißmut führten.
Am nächsten Tag ging Christine in die Bibliothek. Es war jetzt Dezember und noch dunkler als vor beinahe fünf Jahren, als sie zum ersten Mal diesen Raum betreten hatte.
Christine stand mitten im Raum und fühlte sich gleichsam zurückversetzt. Sie hörte die Stimme der Tante, ihr »kommt, kommt« und wieder »kommt, kommt«, kurz und gebieterisch, aber auch voller Liebe, die ihre Tante nicht anders auszudrücken vermochte. Es war fast wie ein Signal, das man verstehen konnte, wenn man wollte. Die Tante hatte einmal vor vielen Jahren ein Kind gehabt, und das war gestorben. »Kommt, kommt«, flüsterte die Stimme aus der geschnitzten Holzvertäfelung, aus bleigefaßten Scheiben, aus den aufgereihten Buchrücken in den Regalen. »Kommt, kommt«, allumfassend, aber zugleich in seiner Zärtlichkeit einengend.
Die Stimme erklang von überall, nur ein Wort, das fast fünf Jahre grenzenloser Liebe enthielt. Christine war das vorher nicht bewußt gewesen. Immer hatte ihre Tante nur auf ihrem Stuhl gesessen und ihnen beim Spielen zugeschaut. Christine fühlte ein schmerzhaftes Stechen bei dem Gedanken, daß sie sich nie auf ihren Schoß gesetzt und die Arme um ihren Hals gelegt hatten, um ihr zu sagen, wie sehr sie sie liebten. Doch der Tante schien es genug zu sein, wenn sie ihr die Hand küßten, sie schien zufrieden, wenn sie nur dasaß, ihnen zuschaute und sich an die Laute des kleinen Kindes erinnerte, das einmal ihr eigenes war.
Christine dachte an die erste Begegnung mit dem Windhund und den Vögeln, eine Hundeschnauze in ihrer Hand,