Prinzessin Christine. Helle Stangerup

Prinzessin Christine - Helle Stangerup


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und Dorothea waren entsetzt, und Johanne tröstete sie, denn wenn die Pest nach Mechelen kommen sollte, würde der Hof sofort an einen Ort verlegt, wo keine Seuche war. Der Kaiser hatte andere Schlösser, doch die Leute hatten keine anderen Häuser, wohin sie gehen konnten.

      Johanne trieb sie nun zur Eile an, »Madame Dorothée« und »Madame Chrétienne«, wie sie immer sagte, obwohl sie kein Wort Französisch konnte. Es war keine Zeit mehr zum Erzählen, denn sie mußten sich für das Abendessen zurechtmachen.

      Wenn die Tante mit ihnen speiste, passierte immer etwas Spannendes. Eine Truppe mit zahmen Bären oder Chorsänger und Musikanten aus England traten auf. Johanne wußte zu berichten, daß sie zuerst gewaschen wurden, denn sie stanken, und die Regentin wollte sie nicht in der Nähe ihres Tisches haben. Johanne meinte außerdem, daß die Regentin die Sonette des Königs von England mehr schätzte als den König selbst, aber das dürften sie niemandem sagen. Sie sahen Marionettentheater und Jongleure, und manchmal wünschte sich Christine, ihrem Vater einen Brief schreiben zu können. Wenn er zurückkommen und bei ihnen wohnen würde, wäre die Welt wunderbar und sie würde das glücklichste Kind der Welt sein, was sie schon beinahe war. Dann könnten sie auch wieder Dänisch reden, wie er es wollte, und er hätte teil an ihrem Leben in Mechelen.

      Zwischen den Vorstellungen der Artisten und Musikanten gab es stets etwas Interessantes für sie. Florentinische Kaufleute kamen oft mit ihren erlesenen Seidenstoffen. Dann wurde eingekauft, und ihre Tante wußte genau, was kleidsam war, wie viele Alen man benötigte und wie viel man zugeben mußte, wenn sie wuchsen. Das war wichtig, und sie wurden ihrem königlichen Rang entsprechend ausgestattet, aber es gab auch keinen Grund, zu verschwenden.

      Alle waren freundlich zu den Geschwistern. Die Adeligen redeten mit ihnen, das Gesinde und die Soldaten lächelten nur, zeigten aber, daß sie Christine und ihre Schwester Dorothea und ihren Bruder Hans mochten. Alle außer einer.

      Das war Kiki.

      Kiki war eine Zwergin. Aber Kiki war auch ein Wechselbalg. Jedenfalls bestand unter den Dienern und dem Gesinde am Hof Einigkeit, daß Kiki sicher einige Zoll größer geworden wäre, wenn sie nicht so viele Prügel bekommen hätte, die ihr den Rücken zertrümmerten.

      Die Prügel waren entschuldbar, denn sie sollten die Unholde dazu veranlassen, Balg und Menschenkind noch einmal auszuwechseln. Aber das Gör mit seinen abstehenden roten Haaren war so häßlich anzusehen, daß die erlittenen Prügel kein Mitleid bei den Unholden erregten und die beiden Kinder blieben, wo sie waren. So wuchs Kiki bei den Menschen auf, obwohl sie in den Untergrund gehörte, während das richtige Kind ein kümmerliches Schicksal unter Unholden und anderem Pack fristen mußte und niemals wiedergesehen wurde.

      Wo immer sie auch hergekommen sein mag, sie war früh von zu Hause fortgelaufen. Sie streunte einige Jahre herum und kam nach Antwerpen, als die Regierung anfing, sich um elternlose Kinder in den Straßen zu kümmern. Sie sollten in Asyle geschickt werden, wo sie die Möglichkeit hatten, lesen und schreiben zu lernen und anständige Bürger zu werden – bis zu dem Tag, an dem sie ihr Ende unter dem Beil des Henkers fanden.

      Im Schutz der Dunkelheit wurde Kiki mitgeschleppt, als man sie aber näher betrachtete und merkte, daß sie weitaus älter als sechs, sieben Jahre war, meinte ein kluger Kopf, sie könnte der Regentin nützlich sein. Kiki wurde also an den Hof geschickt, als Geschenk der Stadt Antwerpen.

      Das war Kikis Glück. Zum ersten Mal in ihrem Leben traf sie einen Menschen, der sie brauchen konnte, und das war die Regentin persönlich.

      Kiki wurde zu der kleinen Fürstin gerufen, die sie bat, von ihrem Leben zu erzählen. Und obwohl Kiki vor Angst zitterte, erzählte sie alles, was sie gehört und gesehen hatte, wenn sie sich hinter Heuhaufen und Scheunentoren oder in Mühlen und Ställen versteckt hatte. In ihrem ganzen Leben hatte Kiki nur das eine gelernt: sich vor Prügel zu verstecken. Sie hatte sich angewöhnt, sich lauschend und beobachtend die Zeit zu vertreiben.

      Die Regentin lachte, der schwere Kopf bebte unter dem Schleier, und je mutiger Kiki bei ihrem Erzählen wurde, um so mehr lachte die mächtige Herrin. Aber dann hielt die Regentin inne, sie faltete die Hände im Schoß und fragte diskret: »Was meinen die Bauern zu den Steuern?«

      Sie hob den Blick, schaute prüfend in Kikis kleines, faltiges Gesicht, und Kiki lächelte glücklich. Endlich brauchte jemand ihre besonderen Fähigkeiten.

      Von da an verließ Kiki den Mechelner Palast täglich bei Sonnenaufgang und kehrte erst zurück, wenn die Dunkelheit über die Stadt hereinbrach, und oft wurde wie hereingerufen, um der Regentin Bericht zu erstatten. Manchmal war es nur wenig, aber wenn Schauspieltruppen die Leute auf den Markt lockten und das Bier in Strömen floß, daß sich die Zungen lösten, konnte sie eine ganze Stunde oder länger über Hurereien, Diebstähle, Erbitterung wegen der Steuern und Getratsche englischer Kaufleute von Ereignissen am Hof in London berichten.

      Die Regentin lauschte im Halbdunkel mit gefalteten Händen und geneigtem Kopf. Sie sagte nie etwas anderes als »Guten Abend, Kiki« und »Gute Nacht, Kiki«, verstand aber auf ihre Weise, Kikis Dienste zu belohnen, und Kiki hatte so manche Goldmünze im Futter eingenäht. Kiki war keineswegs der einzige Informant der Regentin, aber sie war die einzige, die im Palast wohnte und ihr direkt berichtete.

      Kikis Fähigkeit zu hören, ohne gesehen zu werden, war unübertrefflich. Sie wußte, was außerhalb der Mauern vorging, wußte aber auch von allen Ereignissen in der engeren Umgebung des Hofes.

      Kiki wußte, wer aus dem Krug mit den Oliven stibitzte und wer nach den Ölen der Regentin duftete, wenn die Herrin verreist war. Sie wußte sogar, was damals geschehen war, als der König von Dänemark von zu Hause geflohen war, um zur Wiedererringung seiner Reiche Verbündete zu werben.

      An dem Tag hatte sich Kiki in einer der großen Truhen versteckt, und da lag sie, als die Regentin hereinkam und die Nachricht erhielt. Durch einen Ritz im Holz sah sie ihre Herrin so wütend werden, daß ihr Gesicht ganz rot anlief.

      »Wozu hat er denn ein Heer?« fauchte die Regentin. »Was will er hier?«

      Aber sie beherrschte sich und gab Befehl, daß ihre Nichte, die Königin von Dänemark, sowie die Kinder mit den ihrem Rang entsprechenden Ehren empfangen werden sollten. Es wurde festgelegt, wieviel der Aufenthalt der Landflüchtigen kosten durfte, und Kiki freute sich in ihrer Truhe, daß das für königliche Personen gar nicht viel war. Zweitausend Gulden jährlich für die Königin und fünfhundert im Monat für den gesamten Haushalt. Da würde Schmalhans Küchenmeister sein.

      Um so mehr ärgerte sich Kiki, als die Regentin knapp drei Jahre später mit den Kindern in den Hof des Mechelner Palastes ritt. Was wollten die hier? Sie fühlte ihre Stellung bedroht, sie sah ihre Zusammenkünfte mit der Regentin gefährdet, und ihre bangen Ahnungen sollten sich bald erfüllen. Zwar bestand nach wie vor Bedarf an ihrem Wissen, aber die Goldstücke wurden weniger, die gnädige Frau widmete nun alle freien Stunden den drei Kindern eines landesflüchtigen Königs und einer toten Königin, als sei sie, Kiki, nicht von viel größerem Nutzen.

      Die Regentin war nicht die einzige, die Kiki mochte. Auch der grüne Papagei hatte sie ins Herz geschlossen.

      Wenn Kiki den Käfig öffnete, legte der Vogel den Kopf schräg, schaute sie mit einem Auge an, flog dann heraus und setzte sich direkt in ihr Haar.

      Das einzige, was bei Kiki nie zu wachsen aufhörte, waren die Haare. Es wucherte um ihren Kopf herum wie eine gewaltige flammenrote Mähne, fiel über den verkrüppelten Rücken und hinunter auf den Boden wie eine Schleppe. Es war ein grotesker Anblick, wenn Kiki durch die Säle und Stuben und die Arkaden im Hof ging, das Haar wie ein lohender Umhang und der grüne Papagei wie eine Phosphorfackel obendrauf und unaufhörlich schreiend: »Jawohl, gnädige Frau. Jawohl, gnädige Frau ...«

      Eines Tages hörte Kiki, wie zwei Diener höhnisch über sie lachten, und sie beschloß, ihnen einen Schreck einzujagen. Sie sprang zwischen Bierkrügen und Holztellern auf einen der Tische in der Gesindestube. Sie war jetzt mit ihnen in Augenhöhe und erklärte, daß sie kein Wechselbalg sei und auch nicht so klein, weil man sie geprügelt habe.

      »Ich bin immer so klein gewesen«, sagte sie, »seit meiner


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