Prinzessin Christine. Helle Stangerup
getauft wurde. Ich war erst eine Woche alt und so klein, daß ich in die ledergefütterten Handschuhe meiner Patin gesteckt wurde, als sie mit mir zur Kirche ritt. Ich erinnere mich bis heute an das Gefühl des warmen und weichen Lammfells.«
Als sie das gesagt hatte, stand das Entsetzen in den Augen der anderen, und sie genoß es. Sie starrten die Zwergin mit offenen Mündern an. Wenn ein Neugeborenes wußte, was geschah, konnte das nicht mit natürlichen Dingen zugehen. Ein Wechselbalg oder Kobold zu sein war eine Sache, aber eine Hexe zu sein war etwas ganz anderes. Kiki war sich der Gefährlichkeit ihrer Aussage bewußt, sicherte sich aber ab, indem sie der Regentin erzählte, wie gründlich sie alle zum Narren gehalten hatte.
Die Regentin lachte ihr schweres Lachen und wollte noch mehr über die Handschuhe hören und wieviel Fell in ihnen war. Und Kiki fühlte sich sicher, denn die Herrin fürchtete keine Hexen. Die Regentin fürchtete etwas anderes: Ketzer.
Kiki erkannte ihre eigene Bedeutung im Kampf des Kaisers und der Regentin gegen Lutheraner und Wiedertäufer. Auch wenn die Regentin wegen deren Hang, Stunden in Gesellschaft wertloser Kinder zu verbringen, keine Zeit mehr für sie hatte, so gab ihr ein deutscher Mönch mit seinen aufrührerischen Schriften genug zu tun.
Wenn Kiki aus dem Tor trat und sich unter die Leute mischte, spürte sie ihren eigenen Wert und fühlte sich sicherer als je in ihrem Leben. Und wer weiß? Wenn sie lange genug wartete, würde sie vielleicht ihren Platz bei der Regentin zurückerobern.
Kiki verstand sich auf Menschen. Sie sah ein, daß die Regentin nach zwei Ehen und einem toten Kind eine einsame Frau war.
Kiki bemühte sich, ihren Haß auf Christine, Dorothea und Hans zu verbergen. Sie wollte warten, um eines Tages so viel Macht zu bekommen, wie es sich niemand vorstellen konnte. Ihr ganzes Leben hatte Kiki nur Schlechtigkeit kennengelernt, nur Ungerechtigkeit, Prügel, Hunger und Kälte. Sie trug jetzt Seide, aber die kleinen Beine waren blau von den Erfrierungen, die sie erlitten hatte, als sie in den Rinnsteinen Antwerpens schlief, und der Körper war ein Klumpen. Sie hatte eine gestärkte Haube, aber unter der Haube war das Gesicht verschrumpelt wie altes Obst. Kiki wollte Macht haben, sie haßte alle Menschen, all die mit der glatten Haut und den großen, gesunden Körpern. Sie haßte die Kinder und am meisten Fräulein Christine, denn obwohl sie die Jüngste war, schoß sie in die Höhe.
Das ist schlimm, wie sie wächst, dachte Kiki an einem Oktobermorgen, während sie zwischen den Säulen stand und die Klauen des Papageis an der Kopfhaut spürte.
»Es hat aber auch noch niemand ihrer feinen Wange Gewalt angetan.«
Sie starrte auf das Mädchen, das auf ein Pferd gehoben wurde. Kiki sah die perlenbestickte Haube und die mit Wieselfell besetzten Ärmel, sie sah die bereits langen Beine des Fräuleins in die Steigbügel schlüpfen und wünschte sich innig, wirklich eine Hexe zu sein. Denn dann könnte sie Fräulein Christine in einen Zwerg verwandeln, nein, in ein Kriechtier, so haarig und scheußlich, daß jeder schreiend die Flucht ergreifen würde.
Aber Kiki war keine Hexe. Fräulein Christine ritt aufrecht hinaus aus dem Innenhof, und Kiki blieb hinter den Säulen zurück, während der Papagei über ihr sein »Jawohl, gnädige Frau. Jawohl, gnädige Frau ...« krächzte.
4. Kapitel
Gerade als Christine auf ihr Pferd stieg, sah sie Kiki zwischen den Säulen stehen und starren. Sie beschloß, so zu tun, als merke sie es nicht. Christine verabscheute die Zwergin.
Nicht, daß ihr der Anblick von Kiki zuwider war. Christine erinnerte sich schwach daran, daß ihre Mutter einmal eine Zwergin gehabt hatte. Sie hieß Karine und konnte gut Purzelbäume schlagen. Und Hans hatte bereits seinen eigenen Zwerg, den sie alle mochten, weil er lustig war und kleine Dienste übernahm.
Doch jedesmal, wenn Christine Kikis rotes Haar über die Steinfliesen wischen sah, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Kiki war das einzige Lebewesen, das Christine nicht ausstehen konnte.
Kikis starrende Augen waren für Christine so unerträglich wie die stummen, drohenden Blicke, die ihr bei dem Begräbnis der Mutter gefolgt waren. Kalt lief es ihr über den Rücken bei Kikis Blick und dieser aufdringlichen Neugier. Wenn Christine den roten Schopf hinter einer Tür hervorlugen sah, das verstohlene Tappen der kleinen Schritte in den Gängen verklingen hörte oder eine Truhe öffnete, aus der ihr das zahnlose Grinsen eines runzligen Gesichtes entgegenstarrte, fühlte sie sich wie von einer kalten, schleimigen Schlange umfangen.
Als Christine durch das Tor ritt, vergaß sie Kiki. Es war ein klarer, schöner Herbsttag, und sie spürte den muskulösen Rükken des Pferdes unter sich. Daß sie dieses starke Tier beherrschte, Richtung und Tempo bestimmte, erfüllte das Mädchen mit Stolz. Sie war beinahe neun Jahre alt, und jeden Tag erschloß sie sich die Welt um sich herum ein bißchen mehr. Sie wurde größer und schöner, und an diesem klaren Morgen, wo sich das erste Laub auf das Wasser der Kanäle legte, breitete sie die Arme aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen.
Nach dem Ausritt mußten Kleider anprobiert werden. Schon bald sollte sie an einem Bankett teilnehmen, und während Johanne und die Hofdamen zuschauten, wieselten die Schneider um Christine herum. Als sie schließlich an sich hinuntersah, lächelte sie entzückt beim Anblick des goldenen Übergewandes. Die Ärmel fielen lang und weit, und der Samt bauschte sich bis zu dem schmalen geklöppelten Bündchen am Handgelenk. Ihr Haar war vorne in der Mitte gescheitelt, zurückgekämmt und von einem feinen, perlenbestickten Netz umhüllt. Schade nur, daß sie nicht nach der neuesten Mode die Taille betonen durfte. Die Damen erklärten, daß die Regentin das ausdrücklich untersagt hatte, weil sie es für ungesund hielt, besonders für ein so junges Fräulein.
Christine vergaß rasch ihren Ärger und wandte sich Dorothea zu, die ihr grün-silbernes Gewand anprobierte.
Die Regentin saß unter einem mit Goldstickereien versehenen Baldachin, der eben als Geschenk des Dogen eingetroffen war, und sie trug wie immer ihre schwarze Witwentracht. Zu ihrer Rechten saß Prinz Hans und zu ihrer linken Seite der Kardinal, während sich Christine und Dorothea noch mit einem Platz am Tisch der Hofdamen begnügen mußten.
Draußen fegten die ersten Herbststürme über das Land, und obwohl der Palast neu und stabil gebaut war, zog es gräßlich im Saal. Zwar brannten das Feuer im großen Kamin in der Mitte und entlang der Wände Fackeln, doch die Flammen flackerten unruhig, sie gaben nicht genug Wärme, vermochten die Kälte vom Boden her nicht zu verdrängen.
Obwohl das Pelzfutter bis zum Hals und über die Arme reichte, fror Christine. Sie hörte, wie die Fenster bei jedem Windstoß knackten. Aber in die Gläser wurde Rheinwein geschenkt, und der wärmte. Die fetten Karpfen waren aufgegessen, ebenso das Nußsorbet, und vor ihren Augen zeigte der Vorschneider seine Kunst.
Der junge Mann hielt die Wildschweinkeule auf einer Tranchiergabel in die Luft, während er umständlich mit dem Messer das Fleisch zerlegte.
»Weiter oben«, rief die Regentin streng, »und mehr Schwung mit dem Messer.«
Die Regentin wandte sich an den Kardinal: »In Toledo habe ich mal einen Vorschneider erlebt. Es war ein Vergnügen, ihm zuzusehen.«
Der Kardinal beugte sich vor, lächelte liebenswürdig und sagte: »Man hat mir erzählt, daß nicht einmal der König von Frankreich einen finden kann, mit dem er zufrieden ist.«
»Und der König von England?« fragte sie.
»Ich glaube ...«
Der Kardinal zögerte, ehe er fortfuhr: »Ich glaube, der König von England hat andere Sorgen als seinen Vorschneider.«
Dann lutschte er seine Finger sauber, beugte sich zur Regentin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Und während Christine spürte, wie die Kälte die Beine heraufkroch und der Sturm immer stärker wurde, hörte sie ihre Tante antworten: »Ach so.«
Für einen Augenblick war es still, der Mundschenk füllte die Gläser, und dann sagte die Regentin: »Ich habe allerdings gehört, daß der König der Hure überdrüssig geworden sein soll.«
Der Kardinal schüttelte bekümmert den Kopf, alle anderen schwiegen und lauschten,