Prinzessin Christine. Helle Stangerup

Prinzessin Christine - Helle Stangerup


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nicht zur Verfügung stand.

      Aber das war vorbei, zu spät, weg für immer. Christine ahnte mit ihren neun Jahren, daß sie mehr verloren hatte als ihre Tante, daß die zärtlichen Augenblicke nie mehr wiederkommen würden.

      Warum haben wir nie unsere Liebe zu ihr gezeigt? dachte sie in dem dunklen Raum.

      Christine blickte nach oben. Sie starrte auf das Portrait ihrer Mutter. Das weiße Kleid erschien so lebendig in dem schwachen Licht, daß man meinte, es berühren zu können. Aber der Mensch war weg. Christine erinnerte sich nicht mehr an ihre Stimme, ihre Bewegungen, ihre Haut. Sie hing da oben an der Wand über dem Regal und war so tot, als habe sie nie gelebt.

      In dem Dämmerlicht verwandelte sich Christines Mutter in eine Schutzheilige oder ein Fabelwesen oder in einen weißen Engel – gut, rein und erhaben über das irdische Leben.

      Aber Christines Vater war wirklich. Sie erinnerte sich an die Falten in seinem Gesicht, sie erinnerte sich an den Bart und das Lachen und seine Stimme und seinen Schritt. Er war für sie da gewesen in der kurzen Zeit, die zwischen ihrer ersten und ihrer zweiten Mutter verging, und kein zweiter Vater folgte nach.

      Wie er an jenem Nachmittag in der Bibliothek auf sie hinunterschaute, hatte sie den Eindruck, daß die melancholischen Augen zu einem Kopf gehörten, der von Vorahnungen erfüllt war. Sie wußte nichts von seinem Leben und was ihn so schwermütig machte. Er war da, lebte auf dem Bild wie in der Wirklichkeit, wo immer er auch sein mochte.

      Die Glocken läuteten weiter, Hufschlag auf dem Kopfsteinpflaster, doch Christine spürte nur die Stille. Und das Gewissen regte sich in ihr, sie hatte Vaters Wunsch, die dänische Sprache nicht zu vergessen, nicht erfüllt. Sie und ihre Geschwister hatten sie vergessen, alles war weg, verloren wie die Erinnerung an ihre Wiege, ihre Rassel, ihren ersten Frühling. Christine versuchte ihn zu rufen, er solle kommen, heraustreten aus seinem Rahmen da oben, sie auf sein Pferd heben und mitnehmen heim nach Dänemark, wo das Volk jubeln würde, weil der richtige König zurückkehrte und seine drei Kinder mitbrachte.

      Christine war in Gedanken weit weg, viele hundert Meilen nördlich, als sie ein Geräusch hörte.

      Sie war im Nu hellwach, es klang wie ein Huschen. Sie schaute schnell nach beiden Seiten, aber da war nichts, und sie drehte sich ganz um.

      An der Tür stand Kiki. Das letzte Tageslicht schien auf ihr kleines, runzliges Gesicht. Die Augen waren auf Christine gerichtet, wartend und abschätzig, bis ihre Hände in die Seide des Rockes griffen, ihn zur Seite hielten und sie sich langsam bis zum Boden verneigte. Sie war nur ein Bündel aus Seide mit einem Kopf obendrauf. Schließlich richtete sie sich auf und vollführte eine kleine Körperdrehung, als sei sie auf einer Bühne.

      »Der König von Dänemark war hier in Mechelen, um Geld zu betteln.«

      Ihre Stimme klang leise und heiser, und Christine starrte auf das mißgestaltete Wesen. Sie verstand nichts, war aber aus ihren Gedanken gerissen, als die Zwergin erneut den Mund öffnete: »Vierundzwanzigtausend Florin wollte er haben.«

      Sie stand da, wartete auf eine Wirkung, fuhr dann nach einer Pause fort: »Er ist vor dem Kaiser im Staub gekrochen.«

      Sie senkte die Stimme noch mehr, daß fast nur noch ein heiseres Zischen voller Genugtuung hörbar war. »Und hat sich vor dem Kardinal erniedrigt.«

      Kiki leckte sich den Mund mit einer riesigen, roten Zunge und redete plötzlich sehr schnell, als müsse sie sich beeilen, etwas loszuwerden:

      »Aber Euer Gnaden wußten, daß er auch Briefe an Freunde des Ketzers Luther schickte, und er wollte seine Kinder nicht sehen.«

      Gespannt hielt sie den Atem an, stand mit offenem Mund da. Christine sah die rote Zunge in dem dunklen Schlund. Sie wußte, daß sie gehen sollte, in der Stille hörte man nur die Glocken. Aber war ihr Vater wirklich im Sommer hier gewesen, ohne sie zu sehen? Kikis Worte hallten in ihren Ohren wie dumpfe Stöße. Plötzlich wurde sie wütend: »Ich bin die Tochter des Königs, er würde nie herkommen, ohne mich zu sehen.«

      Mehr konnte sie nicht sagen, die wenigen Worte hatten sie erschöpft, aber die Zwergin lachte. Es war ein klirrendes Lachen, wie eine Reihe Eiszapfen, die abbrechen und am Boden zerschellen. »Es war im Juni. Warum sollte er auch seine Kinder sehen? Er hatte sie ja an die Regentin verkauft. Um seine Rechnungen bezahlen zu können. Er hatte sowohl vom Begräbnis der Königin wie beim Kaufmann von Lier Schulden für ...« Die Zwergin verschluckte sich fast vor Lechen. »... für Rheinwein und Schweinebraten.«

      Die Zwergin drehte sich vor Freude um sich selbst, stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Christine stand wie vor einer Mauer, in der sich lange Risse zwischen den Mauersteinen bildeten, die bald keinen Halt mehr hatten und über ihr zusammenstürzten. Die Mauer hätte beschützen sollen, jetzt taumelte Christine unter dem Zusammenbruch. Die Zwergin hielt in ihrer Umdrehung inne, stampfte noch einmal mit dem Fuß auf den Boden und sagte:

      »Der König von Dänemark bevorzugte eine simple Dirne namens Dyveke für sich als Königin.« Und die Zwergin rief, sich bis zum Boden verneigend: »Wären es Dyvekes Kinder gewesen, er hätte sie nie verkauft.«

      Christine griff nach einem Zinnleuchter auf dem Kaminsims, warf ihn nach der Zwergin, und als er Kikis Kopf traf, klang es wie Metall auf Stein. Aber Kiki lachte nur, dieses ausgestoßene Lachen, und blieb in ihrer verbeugenden Haltung am Boden.

      »Den Schweden hat er die Köpfe abgeschlagen, und die Dänen wußten, daß sein Wort nichts wert ist.« Kiki richtete sich auf, reckte ihre kurzen Arme in die Luft und rief schrill: »Für Wein und Schweinebraten.«

      Christine wollte sie fangen, aber Kiki war blitzschnell, als hätte sie ihre Flucht längst geplant. Sie sauste aus der Bibliothek, stieß einen letzten heiseren Schrei aus, ehe die Tür zuknallte.

      Christine blieb einige Schritte vor der geschlossenen Tür stehen. Mit einem Ruck drehte sie sich um und ging so lautlos zurück, daß sie ihr Atmen hörte. Sie hob den Leuchter auf, trat näher, blieb stehen.

      Sie hatte den Leuchter in der Hand, und der Vater blickte herunter zu ihr. Sie sah ihn vor sich in der Gaststube zu Lier, tafelnd mit Wein in großen Bechern und in den Schüsseln der Braten.

      Sie stieß einen wilden Schrei aus, als sie den Leuchter mit aller Kraft auf sein Gesicht schleuderte.

      Er fiel schwer zu Boden und kullerte ein Stück, das Portrait blieb unversehrt.

      Christine lief hin, hob den Leuchter auf, wollte noch einmal werfen, als sie einen Laut vernahm. Ein Laut in ihrer Erinnerung, Metall und Porzellan, das in einem anderen Haus vor langer Zeit auf einem Steinboden zerschellt war.

      Sie senkte langsam den Arm und blieb stehen. Schließlich stellte sie den Leuchter an seinen Platz.

      Dann preßte sie ihre Hände an die Schläfen, als wolle sie all die Angst und die bösen Worte aus ihrem Bewußtsein massieren. Sie schwankte, wurde von Gefühlen erschüttert, die sie vorher nie gekannt hatte, und auf einmal war auch das vorbei.

      Christine hörte wieder die Glocken und fernen Lärm von der Straße. Sie war erschöpft und müde. Noch einmal schaute sie hinauf auf ihre weiße Mutter und den dunklen Vater. Es war vorbei. Sie waren beide tot.

      Im März 1531 ritt Kaiser Karl V. mit seinem riesigen Gefolge hinein nach Mechelen. Er wurde von unzähligen Menschen begrüßt, die an den Straßen standen und aus den Fenstern schauten, er wurde vor dem Rathaus empfangen vom Magistrat und dem Stadtrat und einem zwölfjährigen Knaben mit braunem, gelocktem Haar und aufgeweckten Augen.

      Der Junge war Prinz Hans von Dänemark. Vor seinen zwei kleineren Schwestern stehend drückte er in einfachen Sätzen und formvollendetem Latein aus, welche Trauer ihn und seine Geschwister erfüllte, und bat um Erlaubnis, am niederländischen Hof bleiben zu dürfen, bis sein Vater seine Reiche wiedergewonnen habe.

      Der Kaiser war tief gerührt. Er umarmte seinen Neffen und die Nichten, und wenn er ihnen auf der Stelle versprach, weiterhin in den Niederlanden bleiben zu können, traf er damit keinen schnellen Entschluß. Das hatte er nie in seinem Leben getan. Der Kaiser hatte längst die Person ausgewählt, die sich


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