Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband. Katharina Wolf
umsonst gab es zur Weihnachtszeit die meisten Selbstmorde.
Er fand es einfach praktisch, da dann eh die ganze Stadt geschmückt war und so den Tag in einem noch romantischeren Licht erstrahlen lassen würde. Außerdem liebte er Weihnachten schon seit seiner Kindheit. Bianca hatte ihn immer ihr kleines Christkind genannt.
»Na ja«, Hiroki ergriff nun das Wort, da Sebastian sich immer noch über die faulen Standesbeamten aufregte, die ihn nicht an Heiligabend trauen wollten. »Lange Rede, kurzer Sinn: Er hätte dich gerne als seine Trauzeugin.«
Ich schlug die Hände vor dem Mund zusammen und keuchte erschrocken auf. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Mich?«
»Natürlich dich. Du bist doch meine beste Freundin!«
Seine beste Freundin? Nach all der Zeit, in der ich nicht hier war, in der ich mich nicht bei ihm gemeldet und ihn vernachlässigt hatte, bezeichnete er mich noch immer so?
»Immer noch?« Bevor ich mir darüber bewusst war, sprach ich die Frage aus.
»Aber natürlich. Gut, wir haben in den letzten Jahren eine Fernbeziehung geführt, aber das hat doch nichts daran geändert, was ich für dich empfinde.« Er lachte herzlich und selbst ich musste bei dem Wort Fernbeziehung grinsen. Das passte. »Und? Machst du‘s?«
»Aber natürlich. Also, ich denke schon. Wenn ich das kann. Was muss ich denn tun?« Ich hoffte, niemand verlangte eine Rede von mir. Ansprachen vor großen Menschenmengen waren so gar nicht meins.
»Nicht viel. Da sein, hübsch aussehen und unterschreiben«, gab Sebastian abwinkend zurück. Dabei zog er ein Gesicht, als ob dies die leichteste Aufgabe auf der Welt sei.
»Na ja, unterschlag nicht das Wichtigste«, mischte sich Hiroki ein. »Du musst dieses Nervenbündel natürlich auch bei der Planung unterstützen. Jetzt ist Oktober. Zwei Monate haben wir noch und es gibt einiges zu tun.«
»Solange ich kein Brautkleid aussuchen muss, bin ich dabei.« Ich stand auf, umrundete den Tisch und umarmte Sebastian und danach auch noch Hiroki, der mir schon nach dieser kurzen Zeit ans Herz gewachsen war.
Seltsam.
Dabei hatte ich in den letzten vier Jahren gedacht, ich hätte keines mehr. Also der pumpende Muskel, der war da. Aber rein emotional spürte ich schon seit langem nichts mehr. Nach dem Trennungsschmerz und einer ordentlichen Depression hatte ich die Taubheit dankend angenommen. Wenn Gefühle doch drohten, mich zu übermannen, hatte ich nachgeholfen, diese schnellstmöglich zu unterdrücken. Aber nun war da wieder so etwas.
Ein schönes Gefühl. Ein Anflug von Geborgenheit.
Wir nahmen noch das eine oder andere Getränk zu uns, um unser Wiedersehen zu feiern, und fuhren dann zu Sebastian nach Hause. Er wohnte seit zwei Jahren mit Hiroki in einer Drei-Zimmer-Wohnung und ich durfte vorübergehend in das Büro einziehen. Dort stand bereits ein frisch bezogenes Schlafsofa. Sehr gastfreundlich.
»Die Kommode haben wir dir extra freigeräumt, damit du dich hier auch ein wenig entfalten kannst«, erklärte mir Sebastian etwas verlegen und zeigte auf das gute Stück aus dunklem Holz.
»Danke, Sebastian.«
»Tja, hm ...« Sebastian kratzte sich am Hinterkopf und schaute sich im Zimmer um. »Im Bad sind Handtücher und im Kühlschrank Getränke und auch noch ein wenig Auflauf von heute Mittag ... bedien dich einfach und fühl dich wie zu Hause. Den Rest klären wir dann morgen, okay?«
»Okay.« Ich nickte und schaute mich in meinen temporären neuen vier Wänden um. Alles sehr schön hier. Ich schaute zu Sebastian, der immer noch unentschlossen an der Tür stand und nun mit großen Schritten wieder zu mir gelaufen kam, mich ganz fest umarmte und dabei laut in mein Ohr seufzte.
»Es ist schön, dass du wieder da bist. Aber du solltest echt mehr essen. Du bist zu dünn.«
»Jaja.« Ich winkte ab und verdrehte die Augen. Wenn das mein einziges Problem war ...
Der Abend war erstaunlich entspannend und sogar lustig gewesen. Ich hatte mit peinlichem Schweigen und unangenehmen Fragen gerechnet. Hiroki war echt ein toller Kerl und ich konnte Sebastian verstehen, warum er sich in ihn verliebt hatte. Sie passten gut zusammen und waren ein hübsches und mehr als attraktives Paar. Die Hochzeit der beiden würde sicherlich einige Frauen in tiefe Trauer stürzen. Es stimmte wohl doch: Die besten Männer waren entweder vergeben oder schwul.
Leider befürchtete ich, dass die nächste Zeit nicht immer so schön beschwingt und locker bleiben würde. Wir würden um das Thema Jan nicht ewig herumkommen. Auch wenn sich heute alle Beteiligten sehr viel Mühe gegeben hatten, kein Wort über ihn zu verlieren.
Und wenn es nach mir ginge, konnte das auch ruhig so bleiben.
Erkenntnis
Hiroki und Sebastian liefen Hand in Hand neben mir her. Ich hatte hingegen beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Die beiden hatten einen Tisch in einem italienischen Bistro reserviert, in dem wir zu Mittag essen wollten. Sebastian hatte eine große Tasche bei sich, in der sich seine gesammelten Hochzeits-Akten befanden. Ein paar Dinge wollte er anscheinend während des Essens mit uns besprechen. Ich war wirklich gespannt, was sich Sebastian so alles vorstellte und ausgedacht hatte. Ich befürchtete viel Kitsch, Glitzer, Herzchen, Tüll und wahrscheinlich noch Schlimmeres.
Auf dem Weg zum Bistro liefen wir an der Stadtbibliothek vorbei. Ich blieb automatisch stehen und betrachtete die Auslage im Schaufenster. Einige aktuelle Bestseller standen neben Romanen, Gedichtsammlungen und Kinderbüchern zu den Themen Weihnachten und Advent. Ich hatte ein komisches Gefühl dabei, hier zu sein.
Das war unser Platz gewesen.
Hier hatten wir uns kennengelernt und danach regelmäßig getroffen. Beinahe spürte ich ihn neben mir. In meinem Kopf war er ständig präsent, aber hier sah ich ihn schon fast physisch vor mir stehen. Seinen großen, stattlichen Körperbau, seinen interessierten Blick auf die Buchrücken, den Finger, den er immer über die Zeilen gleiten ließ, und seine Lippen, die stumm das wiedergaben, was im Buch geschrieben stand. Fast war es so, als hörte ich sein freundliches, warmes Lachen.
»Die Autorin magst du doch, oder?« Sebastian riss mich aus meinen Gedanken und zeigte auf ein Plakat. Eine Lesung von Kerstin Gier wurde darauf angekündigt. »Sie stellt anscheinend nächste Woche ihr neues Buch vor. Willst du hin? Ich kann mich noch daran erinnern, dass du früher jedes Buch von ihr verschlungen hast.«
Ich nickte und betrachtete die Ankündigung mit leuchtenden Augen. Ich würde tatsächlich sehr gerne hingehen. Sie war eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen und ihr neues Buch hatte ich noch gar nicht gelesen. Das ging wohl im ganzen Umzugstrubel unter. Normalerweise stand ich nämlich direkt am Erscheinungsdatum schon in der Buchhandlung. Vielleicht war das genau das Richtige, um meine trübe Stimmung etwas aufzuhellen. Die Bücher von Kerstin Gier waren lustig und leicht. Dramen konnte ich nicht mehr ertragen. Ich hatte davon selbst mehr als genug. Mein ganzes Leben war ein einziges Drama!
Ich hatte eine große Portion Spaghetti Carbonara verputzt und trank nun ein Glas Rotwein. Anscheinend kam mein Appetit langsam wieder zurück. Das lag bestimmt an Sebastian. Seine gute Laune steckte an, genau wie seine aufgedrehte Art. Das machte hungrig. Ich hatte ihn in den letzten Jahren nicht wirklich vermisst, das musste ich zugeben. Ich war viel zu sehr mit dem Studium, mir selbst und meiner Depression beschäftigt. Da war kein Platz für irgendjemand anderen gewesen. Aber nun wurde mir klar, dass er mir gefehlt hatte. Nicht bewusst. Aber vielleicht wären meine letzten Jahre anders verlaufen, wenn Sebastian da gewesen wäre. Vielleicht wäre ich dann nicht so tief gefallen? Womöglich hätte er mir helfen können.
Hätte ich es zugelassen? Ich glaube nicht.
»So, jetzt die Sitzordnung. Du hattest dir doch schon was überlegt, oder?«, fragte Hiroki.
Sebastian kramte in seiner Tasche und breitete dann einen riesigen Plan aus, der fast den ganzen Tisch einnahm. In letzter Sekunde rettete ich mein Weinglas beziehungsweise Sebastians Aufzeichnungen, je nachdem,