Nell Gwyn. Charles Beauclerk
bot zwar dieselben Dienste an, war aber ein wenig diskreter. Das Kernstück des Etablissements war zumeist nichts weiter als ein Keller oder ein Raum im Dachgeschoss eines Privathauses, wo man etwas trinken konnte und über den eine Kupplerin die Aufsicht führte. Diese hielt eine ganze Schar junger Mädchen zur Unterhaltung der Gäste bereit. Die Mädchen wohnten nicht im Etablissement selber, sondern wurden je nach Bedarf herbeigerufen. Es gab separate Zimmer im Haus, in die sie sich mit ihren »Gästen« zurückziehen konnten, und deren Spektrum reichte vom Höfling bis zum Taschendieb.
Nells Äußerung, »sie sei in einem Freudenhaus groß geworden«, konnte bedeuten, dass ihre Mutter zu Hause ihrem Gewerbe nachging, aber auch, dass sie irgendwo Räumlichkeiten angemietet hatte. Letzteres erscheint wahrscheinlicher. Es konnte aber auch bedeuten, dass sie alle drei gemeinsam in einem fremden Etablissement arbeiteten, etwa im Haus von Madam Ross. Wie dem auch sei, die Unterwelt war Nells frühes Zuhause, und es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie sie den Gästen unter deren anzüglichen Blicken »Nantz« einschenkte, wie der Branntwein damals hieß, und sich schon in jenem Witz und der Schlagfertigkeit übte, mit der sie später den Hof Charles’ II. schockieren sollte. So wie es in ihrem Leben drei Charles gab, gab es auch drei verschiedene Bühnen: das Freudenhaus, das Theater und den königlichen Hof.
Schon im zarten Alter von neun oder zehn Jahren hat sich Nell wahrscheinlich gegen die Zudringlichkeit der lüsternen Kunden ihrer Mutter wehren müssen. Es ist auch nicht unvorstellbar, dass sie sich bereits als Kind prostituierte; sicher aber werden wir es nie wissen. Doch mit einer alkoholkranken Mutter als einzigem Schutz dürfte sie einer derartigen Ausbeutung durchaus ausgesetzt gewesen sein, und möglicherweise empfand sie die Aufmerksamkeit, die sie für ihre Reize und ihren Witz vonseiten der Freier erfuhr, sogar als einen Ersatz für die fehlende Wärme. Die wenigen, bruchstückhaften Anhaltspunkte, über die wir verfügen, legen die Vermutung nahe, dass Nells ältere Schwester Rose sich schon mit zehn, elf Jahren der Prostitution hingab, womit es für die Jüngere noch schwerer gemacht wurde, einen anderen Weg einzuschlagen. Dennoch wäre es irrig, zu glauben, ein Freudenhaus wäre für ein heranwachsendes junges Mädchen ein vollkommen unangenehmer Ort gewesen, herrschte dort doch stets ein lebendiges, menschliches Treiben. Dadurch bildete es zumindest einen fruchtbaren Nährboden für Nells aufkeimenden Humor und vermittelte ihr bereits früh Einsichten in das Leben. Außerdem hielt es den kalten Wind des Puritanismus fern.
Das Londoner Stadtviertel Covent Garden war eine lebhafte Gegend voller Gegensätze. Im Zentrum lag, beherrscht von der St.-Paul’s-Kathedrale und umgeben von stattlichen Bürgerhäusern, die Piazza selber. Dahinter erstreckte sich ein Labyrinth kleiner Straßen und Gässchen mit engen Wohnhäusern, Läden und Schankstuben und natürlich mit den berüchtigten Freudenhäusern und Elendsbaracken. Das war Nells vertrautes Revier, ein dichter, städtischer Wald, und sie das hübscheste Nymphchen mittendrin. Im Norden grenzte das Viertel ans offene Feld, und im Süden schlossen sich die Palais des Adels an mit ihren ausgedehnten Gärten, die sich bis hinunter zum Fluss zogen. Das Theater, das Nell einmal stadtbekannt machen sollte, war noch nicht gebaut.
Sollte Nell wirklich in der Coal Yard Alley in der Pfarrgemeinde von St. Giles aufgewachsen sein, dann grenzt es schon fast an ein Wunder, dass sie in diesen Slums von London überhaupt überlebt hat. Krankheiten und Ungeziefer waren an der Tagesordnung, von Hygiene kaum oder gar keine Spur, und selbst in den besseren Vierteln der Stadt starb jedes zweite Kind noch vor seinem zweiten Geburtstag. An heißen Sommertagen muss der Gestank von Unrat und Fäulnis schier unerträglich gewesen sein. Wenn Nell tatsächlich in einem der Mietshäuser in den Slums gelebt hat, dann gab es dort zu ebener Erde allenfalls einige schmuddelige, verrauchte und fensterlose Räume, deren aus Lehm gestampfter Boden mit Stroh ausgestreut war und in denen über einem offenen Kohlefeuer gekocht wurde. Sie wird schon froh gewesen sein, wenn sie sich des Nachts oben in ihr Holzkastenbett auf ihre Strohmatratze zurückziehen konnte. Von einem Bad oder einer eigenen Toilette konnte keine Rede sein.
Dennoch muss das Straßenleben in der Drury Lane und Umgebung eine aufregende Abwechslung zur Mühsal der Kinderarbeit gewesen sein. Mit seinem ausgesprochen bohèmehaften Flair war dies eines der buntesten und unterhaltsamsten Viertel Londons. Straßenkünstler jeder Couleur und Nationalität zogen das Volk mit ihren grotesken und waghalsigen Darbietungen an. Da Möglichkeiten für Spiel und Sport fehlten, mussten sich die zerlumpten Straßenkinder ihren Zeitvertreib selber ausdenken. Auch blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als selbst dafür zu sorgen, dass sie genug zu essen bekamen, und so stahlen sie sich normalerweise das Nötige von den Marktständen zusammen. Ihrer Bewegungsfreiheit und auch ihrem Benehmen waren so gut wie keine Grenzen gesetzt, doch der Preis, den sie für diese Freiheit zahlten, war die Unsicherheit. Sie tanzten im Schatten des Todes und schliefen »among tygers wild«.5 Wen wundert es da, dass die Rangen einer Londoner Straße durch starke Bande der Kameradschaft miteinander verbunden waren.
Nell genoss es, dass sie in ihren Gefährten von der Straße ein so bereitwilliges und dankbares Publikum fand. In einer der menschenleeren Sackgassen von St. Giles hielt sie sich voller Begeisterung ihren kleinen Hofstaat und konnte, wie es ein anonymer Biograph ausdrückte, zumindest »in ihrer Fantasie Königin sein«. Im Freudenhaus hatten die Kunden ihr Geschichten über den Hof des guten alten Königs Charles erzählt, und so stelle ich mir vor, wie sie, dieser kleiner Schlingel, stets den Schalk im Nacken, daherschritt, ein altes Betttuch als juwelenbestickte Schärpe umgelegt, und sich so königlich gebärdete, dass ihre begeisterten, halbverhungerten Untertanen augenblicklich auf die Knie sanken und riefen: »Gott schütze unsere gute Königin Nell!« Wie der arme Tom Canty in Mark Twains Prinz und Bettelknabe hing auch sie den lieben langen Tag solchen Träumen nach, und genau wie bei Tom veränderten sich wahrscheinlich auch ihre Art zu reden und ihr Gebaren und wurden zur Bewunderung und zum Vergnügen ihrer Freunde auf seltsame Weise feierlich und höfisch.
Eine Anekdote aus John Downes Roscius Anglicanus (1708) vermittelt uns eine lebhafte Vorstellung davon, wie fürsorglich und treu die verlassenen Kinder der Drury Lane zueinanderhielten. Nells erste Liebe war ein »link-boy«, ein Fackelträger mit Namen Poor Dick, ein heimatloser Bursche, der überzeugt war, dass Nell die Tochter eines Lords sein musste, denn anders konnte er sich ihre außergewöhnliche Schönheit nicht erklären. Der Anblick ihrer nackten, mit Frostbeulen übersäten Füße tat ihm in der Seele weh, und so kaufte er ihr von seinem mageren Lohn ein Paar feine, wollene Strümpfe. Nell zufolge hat er sie ihr selber angezogen und gesagt, wobei seine Tränen auf ihre Frostbeulen fielen, er wäre der glücklichste Mensch auf Erden, wenn die Strümpfe ihr gut täten.
Natürlich ist diese Geschichte nicht belegt, doch sie zeigt uns, dass Nells Schönheit und ihr liebenswertes Wesen ihr bereits in jungen Jahren tiefe Freundschaft und Treue beschert haben. Im Laufe unserer Geschichte werden wir übrigens noch sehen, dass Nell vieles in ihrem Leben ihren zarten und überaus reizenden Füßen zu verdanken hatte. Interessant ist, dass in China, dem Land, aus dem die Geschichte vom Aschenputtel stammt, ein kleiner, wohlgeformter Fuß als Zeichen ungewöhnlicher Tugend und Schönheit galt.
In den Spottversen jener Zeit wird die junge Nell Gwyn als »Cinder-Nell«, d.h. »Aschen-Nell« bezeichnet, denn man nahm an, das Reinigen des Ofens habe ganz gewiss zu ihren Pflichten im Freudenhaus ihrer Mutter gezählt. Ob dem wirklich so war, spielt keine Rolle, doch der Vergleich zeigt, dass ihre Kritiker sie unbewusst mit der Figur der Cinderella assoziierten. In A Panegyrick hieß es:
In ihrer Brust, selbst wenn sie Asche fegte,
der Traum von stolzer Hurerei sich regte.
Und der Verfasser von »The Lady of Pleasure«, vermutlich Etheredge, vermittelt uns ein lebhaftes Bild von Nell, der Straßengöre:
Wer sie sich durch die Straßen mogeln sah,
pechschwarz die Wangen und die Füße bar,
umwölkt von Asche ... Wer hätt’ da gedacht,
wie gut sie sich im Bett des Königs macht?
Wahrscheinlich niemand. Gewiss ist jedoch, dass die kleine Nell Geschichten über den König auf der anderen Seite des Wassers gehört hatte (in London wimmelte es nur so von Gerüchten über sein abenteuerliches Leben) und dass sie in Gedanken dem Tag seiner Rückkehr entgegenfieberte.
Nach